Rezension (5/5*) zu Die geheimste Erinnerung der Menschen: Roman von Mohamed Mbougar Sarr

Literaturhexle

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Buchinformationen und Rezensionen zu Die geheimste Erinnerung der Menschen: Roman von Mohamed Mbougar Sarr
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Im Netz eines famosen Erzählers

Zugegeben: Der Einstieg in den Roman wird einem nicht ganz leicht gemacht. Man muss sich darauf einlassen, denn eine stringente Handlung sucht man vergebens. Worum geht es? Auch diese Frage lässt sich zunächst nur umreißen. Mit dem folgenden Zitat möchte ich mich ein wenig um eine umfassende Inhaltsbeschreibung drücken: „Versuche nie zu sagen, wovon ein großes Buch handelt. (…) In Wahrheit, Diégane, handelt nur ein mittelmäßiges, schlechtes oder banales Buch von etwas. Ein bedeutendes Buch hat kein Thema und spricht von nichts, es versucht einfach nur, etwas auszudrücken oder zu entdecken, aber dieses „einfach nur“ ist schon alles, und dieses „etwas“ ebenso.“(S. 46)

Diégane Latyr Faye ist ein junger, aus dem Senegal stammender und in Paris lebender Doktorand, der von seinem Durchbruch als Schriftsteller träumt. Sein großes Vorbild ist T.C. Elimane, ein Autor ebenfalls senegalesischer Herkunft, der nur ein Buch schrieb, nämlich „Das Labyrinth der Unmenschlichkeit“, das 1935 in Paris erschien und um das sich Geheimnisse winden. Durch Zufall gelangt dieses Buch in Diéganes Hände, es schlägt ihn sofort in seinen Bann, verzaubert ihn und zwingt ihn, dem verschollenen Urheber nachzuspüren. „T.C. Elimane war kein Klassiker, sondern Kult.“(S. 15)

Im Zuge seiner Nachforschungen erfährt Diégane immer mehr über Werk und Autor. Er muss feststellen, dass die Literaturkritik seinerzeit nicht fair mit Elimane umging, dass man ihn rassistisch auf seine Hautfarbe reduzierte, ihm unhaltbare Vorwürfe machte und sein Werk dermaßen verfemte, dass der Autor offenbar untertauchte. Als Folge ging sein verlegender Kleinverlag ebenfalls in Konkurs. Doch das ist längst nicht alles. Sarr spannt einen weiten erzählerischen Bogen über verschiedene Kontinente, stellt facettenreiche Figuren vor, zeigt die Folgen des Kolonialismus, webt wichtige historische Ereignisse ein und stellt Bezüge zu ihnen her. Alles wird höchst authentisch erlebbar gemacht.

Als Informationsquellen dienen Diégane Berichte anderer Suchender, allen voran die der bekannten Schriftstellerin Siga D., deren Faszination für T.C. Elimane gleichsam ungebrochen ist. Darüber hinaus gilt es, Tagebucheinträge, Zeitungsausschnitte, Briefe, Mails und Interviews auszuwerten. Als Leser ist man recht schnell in diesem kunstvollen Labyrinth aus Fakten, Mythen und Vermutungen gefangen, die durch alterierende Sprachstile glänzen. Die Perspektivenvielfalt ist faszinierend. Der Ton variiert je nach Erzähler, ist originell und abwechslungsreich. Die Anlehnungen an die afrikanische Erzähltradition, die sich auch in Dingen wie unsterblichen Geistern, Mythen, kryptischen Weissagungen oder magischen Elementen ausdrücken, sind überall spürbar – stets im Spannungsfeld zu europäischen Gepflogenheiten. Die Probleme des Postkolonialismus sowie afrikanischer Erzähler im Exil werden ohne Pathos und Larmoyanz verdeutlicht. Dabei werden Literatur, Literaten, Kritiker und Schriftsteller mitunter auf die Schippe genommen, vieles darf man mit einem Augenzwinkern lesen. Allerdings gibt es andererseits auch bitterernste Szenen, die den über Jahrzehnte schwelenden Rassismus verdeutlichen, so dass sich die Stimmungen beim Lesen ebenfalls verändern.

Mohamed M. Sarr versteht es, den Leser zu fesseln, indem er zahlreiche Fährten und Fäden auslegt, sie eine Weile außer Acht lässt, um sie dann wieder aufzunehmen. Daraus ergibt sich eine verschachtelte, kunstvolle Konstruktion, die am Ende ein stimmiges Gesamtkonzept ergibt. Der Roman strotzt vor Erzählfreude. Zahlreiche einprägsame, poetisch-philosophische Sätze, wunderschöne Metaphern, originelle Wortspiele und -schöpfungen gilt es zu bestaunen, gleichsam literarische Bezüge zu bekannten Werken der Weltliteratur. Als Leser sollte man Freude an literarischen Rätseln haben, um die ausgelegten Puzzlesteine in die richtige Reihenfolge zu bringen. Der Roman verlangt Konzentration und ist dermaßen vielschichtig, dass auch eine zweite Lektüre neue Erkenntnisse bringen dürfte. Er verbindet Leichtes mit Schwerem, Historisches mit großer Aktualität – einfach grandios!

Ich bin vollkommen begeistert. Sehr zu Recht wurde Sarrs Roman mit dem Prix Goncourt 2021 ausgezeichnet. Er sticht wohltuend aus der Masse heraus. Ein riesiges Kompliment ist auch dem Übersetzerteam Holger Fock und Sabine Müller zu machen, das diesen anspruchsvollen Text meisterhaft ins Deutsche übertragen hat. Für mich ein absolutes Highlight, dem ich viele begeisterte Leser wünsche!

 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Richtig toll zusammengefasst und ausgedrückt! Das ist bei diesem Roman echt nicht leicht gewesen! Pathos hat er jedoch schon eine Menge intus! Na ja, besser als Schnappes. Intelligent hätte man noch hinzufügen mögen, es ist ein intelligenter Roman.
 

Literaturhexle

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