Rezension (5/5*) zu Die geheimste Erinnerung der Menschen: Roman von Mohamed Mbougar Sarr

Irisblatt

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15. April 2022
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Buchinformationen und Rezensionen zu Die geheimste Erinnerung der Menschen: Roman von Mohamed Mbougar Sarr
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Gefangen in der Erzählkunst eines außergewöhnlichen Autors

Mohamed Mbougar Sarr hat mit „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ ein außergewöhnliches Buch geschrieben, das mich von der ersten bis zur letzten Seite in seinem Bann gezogen hat. Dabei ist es gar nicht so einfach wiederzugeben, wovon dieser Roman mit seiner Themenvielfalt, den unterschiedlichsten Erzählstimmen und -strängen handelt. Er gleicht einem mehrstöckigem, komplizierten Labyrinth mit zahlreichen Sackgassen, Abzweigungen und Schleifen, die es zu durchlesen gilt. Nichts überlässt Sarr dem Zufall, alles ist durchkomponiert. Er erzählt eine Geschichte, die viele Jahrhunderte umspannt, trotzdem zeitlos erscheint und brandaktuell ist. Dabei wirkt sie zugleich real und wie doch nicht von dieser Welt.

Im Kern steht ein fiktives, verschollenes Buch eines von der Bildfläche verschwundenen, im Senegal geborenen Autors namens T.C. Elimane. Sein Debüt mit dem Titel „Das Labyrinth des Unmenschlichen“ sorgte 1938 in Frankreich für Furore und wurde zunächst als Wunderwerk eines Ausnahmeschriftstellers gefeiert. Rassistische Anfeindungen ließen nicht lange auf sich warten. T.C. Elimane wurde vorgeworfen nicht „afrikanisch“ genug geschrieben zu haben. Es wurde angezweifelt, dass ein Autor afrikanischer Abstammung überhaupt in der Lage sei, einen Roman von solcher Qualität zu verfassen und schließlich wurde er noch des Plagiats bezichtigt. Die Vorwürfe bedeuteten nicht nur das Ende seiner Karriere als Autor, sondern auch die Insolvenz des kleinen Verlags, der sein Buch publiziert hatte.

Zufällig fällt im Jahr 2018 dem ebenfalls aus dem Senegal stammenden, jungen ambitionierten, erfolglosen Schriftsteller Diégane Latyr Faye in Paris ein Exemplar des verschollen geglaubten Kultbuches in die Hände. Die Lektüre bannt ihn, wühlt ihn auf, begeistert ihn. Er spürt, dass er herausfinden muss, wer dieses Ausnahmetalent T.C. Elimane war und warum er sich nie in der Öffentlichkeit zu seinem Buch und den Vorwürfen geäußert hat. Diégane begibt sich auf eine Spurensuche, erhält dabei Unterstützung einer bekannten senegalesischen Schriftstellerin, durchforstet die Archive, stellt das Buch seinen Freund:innen vor, die allesamt fasziniert, tief in ihrem Inneren erschüttert und begeistert sind.

Sarr geht es immer wieder um das Schreiben. Was macht große Literatur aus? Haben Schriftsteller*innen im Exil eine besondere Verantwortung? Was bedeutet es in der Sprache der Kolonialmächte zu schreiben, Karriere in einer Kultur zu machen, die die „eigene unterdrückte und mit Füßen trat?“ (S. 176). Welche Rolle spielt die Identität von Autor*innen bei der Beurteilung des Werks?

Sarr liefert keine allgemeingültigen Antworten, er zeigt, dass der Umgang mit diesen Fragen immer auf individueller Ebene erfolgen muss.

Der Autor bedient sich unterschiedlicher Textsorten (Tagebücher, Zeitungsartikel, Briefe, Gespräche), um uns immer tiefer in das Labyrinth seiner Gedanken und dieser Geschichte hineinzuziehen. Dabei erhaschen wir ebenso einen Blick auf die Situation Frankreichs im Dritten Reich sowie auf das gegenwärtige Leben der jungen, in Paris lebenden, afrikanischen, literarisch interessierten Community und die Lebensumstände im Senegal seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin zur Gegenwart. Immer wieder verwebt Sarr auch mythologische Geschichten in seinen Text oder lässt traditionelle senegalesische Glaubensvorstellungen einfließen. Je nach Erzählstimme wirken die Textpassagen mal gestelzt, mit Fremdwörtern überfrachtet, dann bildhaft, blumig, nebulös, märchenhaft oder auch nüchtern. Holger Fock und Sabine Müller haben diesen polyphonen Text stimmig aus dem Französischen ins Deutsche übertragen, was sicherlich eine Herausforderung war.

Der Text ist voller Anspielungen auf historische Ereignisse und Persönlichkeiten, die ich vermutlich nur zu einem Bruchteil erfasst habe. Bei aller Ernsthaftigkeit, blitzt immer wieder subtiler Humor durch, wenn Sarr den Blick auf den Literaturbetrieb lenkt. „Die geheimste Erinnerung des Menschen“ strotzt vor Erzählfreude, erfordert Aufmerksamkeit und Gehirnakrobatik. Trotz seiner Vielstimmigkeit und Komplexität war es für mich zu keinem Zeitpunkt ein anstrengendes, sondern ein atmosphärisches, dichtes Lesevergnügen. Zurecht wurde dieser außergewöhnliche Roman 2021 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet.