Rezension Rezension (5/5*) zu Die einzige Geschichte: Roman von Julian Barnes.

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Tagebuch der verlorenen Erinnerung


„Das Leben ist ein Querschnitt, die Erinnerung ist ein Spalten durch den Kern, und die Erinnerung folgt diesem Spalt bis zum bitteren Ende.“ (S. 142)

Thomas Hardy, Ian McEwan, Julian Barnes – sie alle haben etwas gemeinsam: sie haben mich durch das erste (Lese-)Halbjahr 2019 begleitet und sind in die Riege meiner Lieblingsautoren aufgestiegen. Jeder dieser drei Autoren hat mich auf seine ganz eigene Art und Weise begeistert. Am meisten und nachhaltigsten hat dies allerdings Julian Barnes mit „Die einzige Geschichte“ geschafft, welches ich im Rahmen einer gewohnt großartigen Leserunde entdecken durfte.

Es ist mal gar nicht so der Inhalt, der mich in wahre Begeisterungsstürme ausbrechen ließ – so gesehen, erzählt uns Barnes hier eine reine (wenn auch nicht alltägliche) Liebesgeschichte. „Was? Der King liest Liebesgeschichten?“ werden sich jetzt vermutlich einige denken. Ja, so ist es. Es ist nämlich auf den zweiten (tieferen) Blick keine 08/15-Liebesgeschichte mit Schmalz-Happy End – im Gegenteil: sie ist tragisch, sie rührt einen – nicht unbedingt – zu Tränen, aber sie lässt die Leserschaft ins Grübeln kommen.

Und doch gibt es noch etwas Anderes, was mich (ebenso wie die anderen Mitleser*innen aus der Leserunde) noch mehr als die eigentliche Geschichte begeistert hat: die sprachliche Gewandtheit des Herrn Barnes, der mit philosophischen Gedanken und Sätzen zum Niederknien die Leserschaft mitreißt – mitten in die Gefühlswelt des Protagonisten Paul hinein, der am anderen Ende seines Lebens auf seine „einzige Geschichte“ zurückblickt. Wie es sich für Erinnerungen (im gesetzteren Alter) gehört, nicht immer in der Reihenfolge der Ereignisse und stets mit dem gewissen „Vielleicht täuscht mich auch meine Erinnerung etwas“-Touch versehen.

„Es war seine letzte Pflicht ihnen beiden gegenüber, sie so in Erinnerung zu behalten und zu bewahren, wie sie in der ersten Zeit ihres Zusammenseins gewesen war. Sie so in Erinnerung zu behalten, dass sie wieder das hatte, was er noch immer ihre Unschuld nannte: eine seelische Unschuld. Bevor diese Unschuld verunstaltet wurde. Ja, das war das richtige Wort dafür: vollgekrakelt mit den wilden Graffiti des Alkohols. Auch ihr Gesicht war dabei verloren gegangen und daraufhin seine Fähigkeit, sie zu sehen. Sie zu sehen, sich in Erinnerung zu rufen, wie sie gewesen war, bevor er sie verlor, sie aus dem Blick verlor, bevor sie in diesem Chintzsofa verschwand – „Guck mal, Marko Paul, ich lasse mich verschwinden!“ Die erste Person aus dem Blick verlor, den ersten und einzigen Menschen, den er geliebt hatte.“ (S. 233)

Die philosophisch geprägten Gedanken von Paul über die Liebe

„In der Liebe ist alles wahr und falsch zugleich; sie ist das einzige Thema, über das man unmöglich etwas Absurdes sagen kann.“ (S. 263)

sowie über die Erinnerung im Allgemeinen

„Was einmal weg ist, lässt sich nicht zurückholen; das wusste er jetzt. Wer einmal einen Faustschlag ausgeteilt hat, kann ihn nicht wieder zurücknehmen. Was einmal gesagt wurde, lässt sich nicht ungesagt machen. Wir können weitermachen, als wäre nichts verloren gegangen, nicht geschehen, nichts gesagt worden; wir können behaupten, dass wir alles vergessen; doch unser innerster Kern vergisst nicht, weil es uns für immer verändert hat.“ (S. 281)

beweisen große Wortkunst seitens Julian Barnes, aber auch der Übersetzerin Gertraude Krueger gebührt hier Respekt – sie hat meiner Meinung nach herausragende Arbeit geleistet.

Und so lautet mein Fazit für dieses 10 von 5*-Leseereignis: Julian Barnes hat mit "Die einzige Geschichte" einen großartigen Blick auf eine unkonventionelle, tragisch gescheiterte Liebe geworfen, der zwar auf den ersten Blick leicht lesbar, dennoch so tiefgreifend ist, dass man als Leser "gezwungen" ist, "Wach" zu sein, damit einem nichts entgeht.

Abschließend noch ein Zitat von Dietrich Bonhoeffer, welches passender nicht sein kann:

„Je schöner und voller die Erinnerungen, desto schwerer die Trennung. Aber die Dankbarkeit verwandelt die Erinnerung in eine stille Freude. Man trägt das vergangene Schöne wie ein kostbares Geschenk in sich.“



 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

Gast
Tosender Applaus, lieber king! Wieder eine wunderbare Rezension! Eine wunderbare Rezension zu einem wundervollen Buch mit einer Sprachgewalt, die zum Niederknien ist! :rolleyes::rolleyes::rolleyes:
 

KrimiElse

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26. Januar 2019
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buchmafia.blogspot.com
Und doch gibt es noch etwas Anderes, was mich (ebenso wie die anderen Mitleser*innen aus der Leserunde) noch mehr als die eigentliche Geschichte begeistert hat: die sprachliche Gewandtheit des Herrn Barnes, der mit philosophischen Gedanken und Sätzen zum Niederknien die Leserschaft mitreißt – mitten in die Gefühlswelt des Protagonisten Paul hinein, der am anderen Ende seines Lebens auf seine „einzige Geschichte“ zurückblickt. Wie es sich für Erinnerungen (im gesetzteren Alter) gehört, nicht immer in der Reihenfolge der Ereignisse und stets mit dem gewissen „Vielleicht täuscht mich auch meine Erinnerung etwas“-Touch versehen.
Schade, dass ich keine anzeigt hatte, denn genau dafür liebe ich die Leserunden hier so sehr...das Lesen zwischen den Zeilen und die Diskussion darüber.

Eine geniale Rezension, ich bewundere deine Sprachgewandheit, Bravo!
Ich werde das Buch mit Vergnügen lesen...später, wenn wieder Zeit ist.
 

kingofmusic

Bekanntes Mitglied
30. Oktober 2018
7.244
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Schade, dass ich keine anzeigt hatte, denn genau dafür liebe ich die Leserunden hier so sehr...das Lesen zwischen den Zeilen und die Diskussion darüber.

Eine geniale Rezension, ich bewundere deine Sprachgewandheit, Bravo!
Ich werde das Buch mit Vergnügen lesen...später, wenn wieder Zeit ist.
Herzlichen Dank, liebe @KrimiElse . Ja, die Leserunden hier sind schon auf einem anderen Niveau als auf LB - verständnisvoller, herzlicher, tiefgehender :rolleyes:.