Rezension Rezension (5/5*) zu Die drei Leben der Hannah Arendt von Ken Krimstein.

Anjuta

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8. Januar 2016
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Buchinformationen und Rezensionen zu Die drei Leben der Hannah Arendt von Ken Krimstein
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Ein Leben voller politischer Philosophie in Text und Bild

Ken Krimstein, amerikanischer Kreativdirektor einer Werbeagentur, hat seine augenscheinlich große Kreativität dazu genutzt, das Leben der deutschen Philosophin Hannah Arendt in einer Grafic Novel zu verarbeiten. Diese Grafic Novel ist nun übersetzt von Hanns Zischler bei dtv erschienen.
Drei Leben lebt Hannah Arendt nicht freiwillig, sondern gezwungenermaßen, denn sie befindet sich als Jüdin auf der Flucht vor den Nationalsozialisten. In Deutschland war sie zunächst aufgewachsen in einem guten Elternhaus in Ostpreußen in einer Welt voller:
„Mama, Papa, Opa, Musik, Vögel, Spiele, Bilder, Spielzeug, Kekse, Farbe, Licht, Klang, Berührung ….“
Das wohlbehütete Leben führt sie zu einem Studium der Philosophie bei Martin Heidegger, der ihr zunächst Lehrmeister und dann auch Geliebter wird. Der Schatten Heideggers wird sie danach noch viele Jahrzehnte begleiten. Sich von ihm abzusetzen, von dem Mann und dem Philosophen, wird sie noch sehr lange und intensiv beschäftigen.
Auf der Flucht vor den Nazis gelangt sie zunächst nach Prag, später nach Paris und über Lissabon in die USA. Dabei ist sie immer umgeben von den geistigen Größen des deutsch-jüdischen Kulturlebens, dem die Nazis ein totales Ende zu bereiten versuchen. Krimstein gelingt es meisterhaft, diese Flucht- und Geistesgeschichte in Text und Bildern kongenial miteinander in Beziehung und Einklang zu bringen. Bilder und kurze Texte lassen den Leser, der hier auch gleichzeitig Betrachter ist, das aufreibende Leben der Hannah miterleben. Der Leser erlebt etwa die Schocksituation des Reichtagsbrands, indem sich die Flammen des Reichstags quasi in die erschütterten Gesichter der jüdischen Intellektuellen hineinfressen. (S. 62) Oder er erlebt die Verlorenheit der Hannah auf ihrer Suche nach einem Schlüssel zur Welt, wenn ihre im Buch immer grün dargestellte Gestalt sich zwischen vier leer bleibenden Grafic Boxen in der Weite des tiefen Denkens zu verlieren scheint. (S. 59)
Vom Ausland aus muss Hannah die grausamen Realitäten des Lebens im Deutschen Reich erkennen. Die Vernichtung der Juden wird für sie greifbar in der Gestalt der kleinen „Natalie F.“ die als regelrecht ausgewischte Gestalt immer wieder im Denken der Hannah (und in den Bildern Krimsteins) auftauchen wird.
In den USA, in New York, entwickelt Hannah ihre politisch-philosophische Denkweise weiter und erhält die Möglichkeit, für „The New Yorker“ zu arbeiten. Als sie den Auftrag erhält, über den Adolf-Eichmann-Prozess in Israel zu berichten, wird ihre Lebensauffassung extrem auf die Probe gestellt. Sie muss erkennen, dass sie in Eichmann nicht den exzeptionell Bösen überhaupt erkennt, sondern in ihm auch und besonders die Normalität bzw. die Banalität des Daseins sieht. Diese Erkenntnis bestimmt ihre Berichterstattung über den Prozess, was ihr die Feindschaft großer Kreise – auch ihrer Freunde einbringt. Doch ist das Böse nicht viel beängstigender und diabolischer, wenn es in uns allen schlummert und nicht nur in einigen wenigen? Oder ist das Böse nur böse genug, wenn man es in wenigen Personen total verdammen kann. Eine Frage, die nach Arendts Arbeiten über Eichmann viele Diskussionen heraufbeschworen hat. Was Hannah Arendt daraus lernt, ist dann der Grundstein ihrer politischen Philosophie der Pluralität. Es gibt nicht nur eine Wahrheit – die gibt es nur in den totalitären Systemen, wie sie sie in ihrem Leben erleben musste. Es gibt vielmehr eine Milliarde Wahrheiten, die öffentlich vertreten werden in jedem Augenblick. Ein Durcheinander? Na und! Dann schau Dir die Alternativen an!“ Das sind tiefe philosophische Einsichten, die unserer freiheitlichen Welt mehr als 70 Jahre Frieden in einem zuvor sehr feindlichen und kriegerischen Teil der Welt gebracht haben. Einsichten, die heute plötzlich wieder auf dem Prüfstand zu stehen scheinen und die so wichtig zu bewahren sind.
Diese tiefen und gewichtigen Erkenntnisse schafft Krimstein in Wort und Bild zu vermitteln und dem Leser in ihrer großen Bedeutung zu präsentieren.
Ich werde hiermit zum Fan des Genres Grafic Novel, von dem ich bisher so vollkommen unbeleckt geblieben bin. Danke an Hannah Arendt für dieses Denken und sein Vertreten in der Öffentlichkeit. Danke Ken Krimstein für diese Verarbeitung des Stoffes, danke dtv für die deutsche Ausgabe und danke Watchareadin, ohne die ich an dieses Buch nie eine Hand gelegt hätte.
5 STERNE!!!


 

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