Rezension Rezension (5/5*) zu Die Detektive vom Bhoot-Basar von Deepa Anappara.

KrimiElse

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26. Januar 2019
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Armes Indien

Täglich knapp 200 Kinder verschwinden in Indien, die meisten werden nicht einmal vermisst.
Deepa Anappara benutzt für ihren Roman „Die Detektive vom Bhoot-Basar“ eine auf tatsächlichen Ereignissen beruhende Geschichte über die Entführung von Kindern. Die Autorin führt den Leser in ihrem großartigen Debüt-Roman in ein Armenviertel in Dehli, wo bei einer Entführungsserie Kinder aus dem Slum verschwinden und eine Bande von Kinderdetektiven dort ermittelt, wo die Polizei wegsieht.
Weit weg von der glitzernden Bollywood-Welt wird man als Leser mit Grausamkeiten im Slum, unvorstellbaren Lebensumständen und Armut, Frauenfeindlichkeit und Übergriffen von nationalistischen Hindus auf Muslime aus naiver kindlicher Sicht konfrontiert. Beim Lesen wirkt das unschuldig, nicht Mitleid erheischend, aber dennoch wie eine Sozialstudie der indischen Unterschicht, die dadurch erträglich ist, dass die kleinen Protagonisten nicht hoffnungslos verloren sind, sich Glücksmomente und Freude bewahren und zumindest in den Geistergeschichten das Gute siegen darf.
Die Autorin weiß wovon sie schreibt, sie hat als Journalistin in Dehli gearbeitet und hatte dort viel Kontakt zu Straßenkindern, denen sie in ihrem Roman ein Gesicht gibt. Ihre Erfahrungen mit den Kindern spiegeln sich in ihrem Buch wider, es sind keine armen duldsamen Opfer sondern aufgeweckte mutige, schlaue und freche Kinder, die selbstbewusst durchs Leben gehen.

Der neunjährige Jai, seine kluge Freundin Pari und der muslimische Faiz sind die Kinderdetektive, die nach dem Verschwinden eines Schulfreundes aus Jais Klasse nach diesem suchen. Jai schaut zu viele Polizeidokus und schwingt sich zum Anführer der Bande auf, Pari kommt als Klügste von allen auf die besten Ideen und Faiz hat viel Lebenserfahrung, arbeitet er doch schon im nahe gelegenen Basar. Alle drei leben im Basti, einem illegalen Slum am Fuß einer großen Müllkippe, hinter der die Wohntürme der Betuchten HiFi-Leute aufragen. Als immer mehr Kinder verschwinden geraten auch die drei kleinen Ermittler in Gefahr.

Durch die Struktur der Geschichte fühlt man sich sofort an Emil und die Detktive oder an Kalle Blomqvist erinnert. Aber das Wesen des Romans besteht nicht in der Aufklärungsarbeit - dazu tragen die Kinder lediglich kleine Schnipsel bei - sondern im Blick auf das Leben in einer Großstadt im heutigen Indien. Ganz nahe darf man den Bewohnern des Basti über die Schulter sehen, ihre Armut im Alltag genauso beobachten wie den Umgang mit der Familie, mit Minderheiten, mit Geistern. Korrupte Polizisten treten im Basti auf genauso wie rechtsnationale Hinduisten. Man bekommt Einblick in die weit geöffnete Schere der Klassenunterschiede, wenn man davon liest, wie Jais Mutter sich für eine HiFi-Madam als Dienstmädchen abschuften muss. Oder wie der Vater eines der entführten Jungen, ein Mann, der für die Reichen die Bügelwäsche erledigt, durch den Wegfall der Arbeitskraft seines Jungen komplett im Schuldenstrudel versinkt. Von undurchdringlichem allgegenwärtigen Smog erzählt die Autorin ebenso wie von der Angst der Bewohner des Basti vor den Bulldozern. Alles betrachtet aus der Sicht des kindlichen Ich-Erzählers Jai, was den vielen Schrecken oft die Spitze nimmt und es für den Leser etwas erträglicher macht.
Es ist eine kluge Wahl der Autorin, den kleinen Jungen erzählen zu lassen. Er ist neugierig und aufgeweckt, unschuldig und darf sich irren, starrt genau hin wo ein Erwachsener wegsehen würde. Und er glaubt an von Mund zu Mund weitergegebene Geistergeschichten, die den Kindern und Verlassenen Hoffnung und Schutz vor der harten Realität spenden.

Am Ende kommt es durch die Mithilfe der drei Freunde Jai, Pari und Faiz zu einer Verhaftung, allerdings wird nicht endgültig geklärt ob es wirklich die Drahtzieher erwischt hat. Auch das Motiv bleibt offen, ebenso wie die entführten Kinder verschwunden bleiben. Wie im richtigen Leben endet das Interesse der Polizei und der Medien nach einem kurzen Aufflackern, denn die Ärmsten der Armen sind einfach nicht wichtig genug um mehr Anstrengungen zu investieren. Dazu fehlt ihnen einfach das Geld zur Bestechung in der korrupten indischen Gesellschaft.
Leichtfüßig beginnt die Geschichte, aber im Verlauf nimmt die Bedrückung immer mehr zu, beim Leser und bei den drei kleinen Detektiven, die zunehmend überfordert sind von Korruption, Diskriminierung, Schmutz, Brutalität und der Enge des Viertels. Als Leser fühlt man sich ebenso, denn es ist keine glückliche Geschichte mit einem guten Ende, auch wenn ab und zu Lebensmut und Hoffnung aufblitzen, lastet das Gelesene schwer auf dem Gemüt und ich fühle mich in meiner Komfortzone etwas unbehaglich und mitschuldig.

 

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Täglich knapp 200 Kinder verschwinden in Indien, die meisten werden nicht einmal vermisst.
Deepa Anappara benutzt für ihren Roman „Die Detektive vom Bhoot-Basar“ eine auf tatsächlichen Ereignissen beruhende Geschichte über die Entführung von Kindern. Die Autorin führt den Leser in ihrem großartigen Debüt-Roman in ein Armenviertel in Dehli, wo bei einer Entführungsserie Kinder aus dem Slum verschwinden und eine Bande von Kinderdetektiven dort ermittelt, wo die Polizei wegsieht.
Weit weg von der glitzernden Bollywood-Welt wird man als Leser mit Grausamkeiten im Slum, unvorstellbaren Lebensumständen und Armut, Frauenfeindlichkeit und Übergriffen von nationalistischen Hindus auf Muslime aus naiver kindlicher Sicht konfrontiert. Beim Lesen wirkt das unschuldig, nicht Mitleid erheischend, aber dennoch wie eine Sozialstudie der indischen Unterschicht, die dadurch erträglich ist, dass die kleinen Protagonisten nicht hoffnungslos verloren sind, sich Glücksmomente und Freude bewahren und zumindest in den Geistergeschichten das Gute siegen darf.
Die Autorin weiß wovon sie schreibt, sie hat als Journalistin in Dehli gearbeitet und hatte dort viel Kontakt zu Straßenkindern, denen sie in ihrem Roman ein Gesicht gibt. Ihre Erfahrungen mit den Kindern spiegeln sich in ihrem Buch wider, es sind keine armen duldsamen Opfer sondern aufgeweckte mutige, schlaue und freche Kinder, die selbstbewusst durchs Leben gehen.

Der neunjährige Jai, seine kluge Freundin Pari und der muslimische Faiz sind die Kinderdetektive, die nach dem Verschwinden eines Schulfreundes aus Jais Klasse nach diesem suchen. Jai schaut zu viele Polizeidokus und schwingt sich zum Anführer der Bande auf, Pari kommt als Klügste von allen auf die besten Ideen und Faiz hat viel Lebenserfahrung, arbeitet er doch schon im nahe gelegenen Basar. Alle drei leben im Basti, einem illegalen Slum am Fuß einer großen Müllkippe, hinter der die Wohntürme der Betuchten HiFi-Leute aufragen. Als immer mehr Kinder verschwinden geraten auch die drei kleinen Ermittler in Gefahr.

Durch die Struktur der Geschichte fühlt man sich sofort an Emil und die Detktive oder an Kalle Blomqvist erinnert. Aber das Wesen des Romans besteht nicht in der Aufklärungsarbeit - dazu tragen die Kinder lediglich kleine Schnipsel bei - sondern im Blick auf das Leben in einer Großstadt im heutigen Indien. Ganz nahe darf man den Bewohnern des Basti über die Schulter sehen, ihre Armut im Alltag genauso beobachten wie den Umgang mit der Familie, mit Minderheiten, mit Geistern. Korrupte Polizisten treten im Basti auf genauso wie rechtsnationale Hinduisten. Man bekommt Einblick in die weit geöffnete Schere der Klassenunterschiede, wenn man davon liest, wie Jais Mutter sich für eine HiFi-Madam als Dienstmädchen abschuften muss. Oder wie der Vater eines der entführten Jungen, ein Mann, der für die Reichen die Bügelwäsche erledigt, durch den Wegfall der Arbeitskraft seines Jungen komplett im Schuldenstrudel versinkt. Von undurchdringlichem allgegenwärtigen Smog erzählt die Autorin ebenso wie von der Angst der Bewohner des Basti vor den Bulldozern. Alles betrachtet aus der Sicht des kindlichen Ich-Erzählers Jai, was den vielen Schrecken oft die Spitze nimmt und es für den Leser etwas erträglicher macht.
Es ist eine kluge Wahl der Autorin, den kleinen Jungen erzählen zu lassen. Er ist neugierig und aufgeweckt, unschuldig und darf sich irren, starrt genau hin wo ein Erwachsener wegsehen würde. Und er glaubt an von Mund zu Mund weitergegebene Geistergeschichten, die den Kindern und Verlassenen Hoffnung und Schutz vor der harten Realität spenden.

Am Ende kommt es durch die Mithilfe der drei Freunde Jai, Pari und Faiz zu einer Verhaftung, allerdings wird nicht endgültig geklärt ob es wirklich die Drahtzieher erwischt hat. Auch das Motiv bleibt offen, ebenso wie die entführten Kinder verschwunden bleiben. Wie im richtigen Leben endet das Interesse der Polizei und der Medien nach einem kurzen Aufflackern, denn die Ärmsten der Armen sind einfach nicht wichtig genug um mehr Anstrengungen zu investieren. Dazu fehlt ihnen einfach das Geld zur Bestechung in der korrupten indischen Gesellschaft.
Leichtfüßig beginnt die Geschichte, aber im Verlauf nimmt die Bedrückung immer mehr zu, beim Leser und bei den drei kleinen Detektiven, die zunehmend überfordert sind von Korruption, Diskriminierung, Schmutz, Brutalität und der Enge des Viertels. Als Leser fühlt man sich ebenso, denn es ist keine glückliche Geschichte mit einem guten Ende, auch wenn ab und zu Lebensmut und Hoffnung aufblitzen, lastet das Gelesene schwer auf dem Gemüt und ich fühle mich in meiner Komfortzone etwas unbehaglich und mitschuldig.


... okay, Du und Lesehexle, Ihr habt mich überzeugt;-)
 
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... okay, Du und Lesehexle, Ihr habt mich überzeugt;-)
Vorsicht: ich muss es noch lesen! Aber es kommt bald dran. Den Anfang hatte ich ja schon als Hörbuch :)

Danke für die tolle Rezension, liebe Krimielse! Ich bin bis Mitte Juni LR-frei, da kann ich die eigenen Bestände bearbeiten;)
 
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Vorsicht: ich muss es noch lesen! Aber es kommt bald dran. Den Anfang hatte ich ja schon als Hörbuch :)

Danke für die tolle Rezension, liebe Krimielse! Ich bin bis Mitte Juni LR-frei, da kann ich die eigenen Bestände bearbeiten;)
Ich hatte zwischendurch auch immer mal ein bisschen gehört, aber Lesen ist hier besser, finde ich. Ich hatte ganz vergessen, dass du auch schon an dem Roman dran bist.
 

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Ich hatte zwischendurch auch immer mal ein bisschen gehört, aber Lesen ist hier besser, finde ich. Ich hatte ganz vergessen, dass du auch schon an dem Roman dran bist.
Ich hatte mir das Hörbuch gekauft. Da aber gerade die ganze Familie daheim ist, konnte ich nur häppchenweise hören. Dann hat man die Namen und den Zusammenhang wieder vergessen. Es war genau mein Eindruck, dass man es besser lesen sollte :)
Prompt fiel es mir wieder in die Hände - wie bestellt!
 
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Ich überlege ein Wanderbuch daraus zu machen...oder hast du das Buch schon?
 
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Gebt´s zu: ihr habt euch verbündet, dass ich meine "20 in 20"-Liste nicht schaffe. Ha, ich hab euch durchschaut :p:D:D:D:D:D:D:D:D:D. Gewohnt großartige Rezension! :cool:
 
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