Rezension Rezension (5/5*) zu Die Bertinis von Ralph Giordano

Anjuta

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8. Januar 2016
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Buchinformationen und Rezensionen zu Die Bertinis: Roman von Ralph Giordano
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Der Roman „Die Bertinis“ von Ralph Giordano erzählt die Geschichte einer italienisch-jüdischen Familie im Hamburg durch die Nazizeit hindurch. ES ist dabei nicht schwer zu entschlüsseln, dass sich hinter dieser Geschichte das eigene, autobiografische Leben des Autors verbirgt. So schildert er den Lesern mit großer Einfühlsamkeit und Leidenschaft das Leben dieser Familie in einem Deutschland, das ihnen immer fremder wird und in dem sowohl alltägliche als auch staatliche Verfolgung allgegenwärtig und immer näher rückend ist.

Die Mutter eine „Volljüdin“, der Vater ein italienischer Musiker sowie die jeweils dazugehörigen Großeltern und Tanten und Onkel – das ist der familiäre Hintergrund, der in den 30er Jahren in Deutschland für die drei Kinder der Familie, Cesar, Roman und Ludwig, alles andere als eine Fahrkarte zu schulischem und beruflichen Erfolg sowie zu gesellschaftlicher Anerkennung bedeutet. Giordano nimmt den Leser mit, tief hinein in die Alltagserfahrungen dieser Personen, schildert sie authentisch, detailliert und intensiv. Dabei geht es ihm nicht nur um eine Darstellung der Judenproblematik im Hamburg dieser Zeit, sondern er vergisst auch nicht, dass für die heranwachsenden Kinder und Jugendlichen auch noch die in ihrem Alter „normalen“ Themen im Alltag eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Das sind: Pubertät, die Beziehung zu Mädchen, die Berufswahl, Beziehungen zu Eltern und Verwandten, Lehrertypen. Der Autor führt uns durch all diese Themen und verlangt damit dem Leser ein großes Maß an Geduld und Einlassen auf detailliertes, langsames Erzählen ab.

Die wichtigsten Stationen des Lebens der Familie Bertini sind:
- HAMBURG LINDENALLEE 113: ein bürgerlich einigermaßen geordnetes Leben mit der allgegenwärtigen Bedrohung der Diskriminierung bzw. Verfolgung, wobei vordringlich die Mutter mit einem komplett jüdischen Stammbaum als bedroht erscheint und die Familie für lange Zeit noch jedenfalls solange sicher erscheint, wie sich der „arische“ Vater nicht von ihnen/ihr abwendet. Gleichzeitig erleben die jugendlichen Bertinis ein großes Maß an alltäglicher Diskriminierung in der Schule und ihrem gesellschaftlichen Leben, die sich immer enger um sie schließt. So verlieren sie immer stärker ihr Heimatgefühl, das sich in der Vergangenheit sehr stark in der Stadt Hamburg und der näheren Umgebung ihrer Wohnung manifestiert hat.
<I><B> "In diesem Sommer … hatte die Isolation der Bertinis ihren Abschluss gefunden. Jede Art von Zugehörigkeit erschien in ihrer Vorstellungswelt als VERGANGENHEIT. Heimat – das WAR!" </I></B>
Die Machtergreifung der Nazis bedeutet in diesem Leben der Bertinis in der Lindenallee 113 einen deutlichen Einschnitt, der alles bisher Erlebte, Gedachte und Geplante widerlegt und ändert.
<I><B> "In all diesem Wust von Nebensächlichkeiten und Belanglosem aber steckte dennoch das Gerüst jener sonderbaren Sippengeschichte, deren weit auseinanderliegende Ursprünge aus Italien und Deutschland in Hamburg verschmelzen, dort selbständig werden und mit dem Stichtag des 30. Januar 1933 ein Schicksal erfahren, dessen Ausgang noch völlig ungewiss war." </I></B>
<I><B> "Diese Ungewissheit wird nun zu einem Teil jener Macht, die ihr Leben immer unheimlicher formen, ausfüllen, entleeren, beherrschen und zerstören soll – die Angst vor dem allgegenwärtigen Zugriff der Geheimen Staatspolizei! Und zwar nicht, weil sie etwas gegen die staatliche Gewalt unternahmen, sich gegen sie organisierten, auflehnten oder kämpften, sondern einfach, weil sie da waren auf der Welt, weil sie lebten, atmeten, existierten …" </I></B>

- ZWEITER WELTKRIEG: in dem die Bertini-Kinder wegen ihrem halbjüdischen Hintergrund von der Einziehung an die Front verschont bleiben, gleichzeitig aber auch die Missachtung ihrer Umwelt ob dieses Umstandes gegenwärtigen müssen. In dieser Situation verlieren sie ihr Heimatgefühl und ihr Fühlen als Deutsche vollends und verfolgen intensiv das Wirken der Alliierten und deren Vorrücken, das Erlösung von der Bedrohung erkannt wird.
<I><B> "…war es für sie selbstverständlich, dass sie während Mussolinis Krieg gegen Abessinien auf der Seite der Afrikaner standen, ebenso wie auf der Seite der Republik, als in Spanien der Bürgerkrieg ausgebrochen war." </I></B>
Aber sie werden in ihrem Warten hart auf die Probe gestellt und müssen eine Menge leid erfahren, unter anderem auch die Bombenzerstörung ihres Hauses und der Verlust dieser Heimat inmitten des Fremdseins.
- BODENBERG: nach dem Ausbomben aus ihrem Heim in der Lindenallee flieht die Familie in ein kleines Dorf in Mitteldeutschland, östlich von Braunschweig, wo sie Zuflucht bei entfernten Verwandten finden. Die Reaktion der Verwandten und der Dorfgemeinschaft auf die „Juden“ unter ihnen ist in diesem Lebens- und Buchabschnitt das Hauptthema. Genauso wie das Leben in Gefahr und Einsamkeit, gepaart aber weiterhin mit einem fast unerschütterlichen Glauben an den möglichen guten Ausgang der Geschichte:

Bis zu dieser Minute hatte keiner von ihnen je mit einem anderen Kriegsausgang gerechnet, als dass ihre Feinde geschlagen würden, geschlagen an Haupt und Gliedern, bis zum letzten Atemzug verfolgt und restlos zerschmettert; dass dies der Lauf der Weltgeschichte sei, von allem Anfang an, und dass es keine andere Gerechtigkeit gäbe. Die Bertinis hatten diese metaphysische Zuversicht aufrechterhalten, als sich die deutschen Fronten noch in alle Himmelrichtungen nach Europa hinein und nach Asien und Afrika hin ausgedehnt hatten. Und sie sahen sich in ihrer Unerschütterlichkeit nur allzu bestätigt nach Stalingrad, nach der Vertreibung des deutschen Afrikakorps und seinem Ende in Tunesien, … die militärische Niederlage Deutschlands war für sie so sicher gewesen wie der Sonnenaufgang am nächsten Tag."

- RÜCKKEHR INS AUSGEBOMBTE HAMBURG, UNTERSCHUPF IM KELLER IN DER DÜSTERNSTRAßE: in diesem Buchabschnitt geht es um das Leben in der ausgebombten Stadt und das Warten auf die heranziehende Front, die einerseits die große Hoffnung ist, andererseits aber auch eine große Gefahr verheißt angesichts des erwarteten Aktionen der Nazis in deren heranziehenden letzten Stunden. Und deshalb ist dieser Lebensabschnitt auch angefüllt mit der Organisation eines Notfallplans beim Heraufziehen dieser letzten Tage. Es geht um nichts weniger als um „den Wettlauf zwischen ENDLÖSUNG und dem Sieg der alliierten Armeen“. Der Schatten der KZs wird dabei wiederholt und immer wiederkehrend von der jüdischen Großmutter heraufbeschworen, die unhörbare Stimmen rufen hört: „Fame – Hunger – fa-a-me!“ Rufe aus dem KZ, aus denen sie schließt. „Das KZ muss sehr nahe sein.“ Für die Bertinis ist dies brutale Gewissheit über Jahre hinweg.

- LEBEN IM UNTERGRUND: In einem von Roman sorgfältig vorbereiteten, gleichwohl ohne allen Komfort ausgestatteten feuchten Kellerloch, in dem sie wochenlang zubringen müssen, ohne laut sprechen zu können und ohne Licht und Luft, leben die Bertinis im Untergrund und warten auf die Befreiung. Die mühsam von Roman organisierte Lebensmittelversorgung kann sie nur eben so am Leben halten. Das trifft besonders auf die hochschwangere Mutter Lea zu. Die Grenze zum Wahnsinn ist da oftmals sehr nah. Hier hocken sie und warten sehnsüchtig auf ein befreiendes Signal des Einzugs der Alliierten in ihrer Heimatstadt.

- ELBCHAUSEE: Nach der Befreiung durch die Allierten, die die Familie lebend erleben kann, organisiert Roman für die Familie eine ansehnliche Wohnung in einem Villenhaus auf der Elbchausee. Jetzt nutzt er das Schicksal des Verfolgten, um zumindest ein geringes Maß an Vorteilen gegenüber den weiterhin ständig und überall präsenten Ex-Nazis zu erreichen. Das führt sie dann in die Elbchausee, wo der Besitzer und Vermieter sich von ihrer Anwesenheit Schutz und Sicherheit gegen Ansprüche der Alliierten und eine drohende Vertreibung erhofft und die Bertinis gerade nur so lange hofiert, wie er diese Hoffnung aufrecht erhält. Roman ist in dieser Phase getrieben von der Aufarbeitung der Vergangenheit und dem Ringen darum, wie damit umzugehen sein wird. Wiederholt treiben ihn Gedanken der Selbstjustiz an, immer ausgestattet mit einer Waffe in der Jackentasche. Wiederholt aber scheitert er bei den festen Absichten, Selbstjustiz walten zu lassen, sogar bei den ärgsten Feinden aus seiner Nazizeitvergangenheit. Gleichzeitig treibt ihn die Frage nach dem Wohin um? Weiterleben in Deutschland? Unter den ehemaligen Nazis, deren Geisteshaltung auch nach Kriegsende nur unschwer unter einer dünnen Oberfläche erkennbar bleibt. Seine in der Elbchausee geborene Schwester ist für ihn eine Zeitlang ein helles Signal der Zuversicht in die Zukunft, denn sie ist eine Person, die ohne die Lasten der Vergangenheit ständig schultern zu müssen und um die Verfolgung und bösen Erfahrungen weiß, als neuer Mensch ein Leben wird aufbauen können. Doch diese Hoffnung erweist sich bald als trügerisch, da – wie sich bald zeigt und von der Mutter nicht mehr versteckt werden kann – die Vergangenheit ebenfalls in sich stecken hat und nicht folgenlos in ihr gewachsen ist: sie ist behindert geboren und wird für die Familie immer ein Mahnmal an die Entbehrungen des Krieges und der Nazizeit bleiben. Langsam und vorsichtig macht sich Roman auf den Weg in seine Zukunft, die geprägt sein wird durch Schreiben, und zwar auf Deutsch schreiben. Und damit beantwortet sich für ihn auch die Frage nach dem wohin. Er muss in Deutschland bleiben und einen Roman über sein Leben schreiben, um die Vergangenheit für sich und andere aufzuarbeiten. Immer schon hat er in Manuskripten Aufzeichnungen dazu vorgenommen, die er nun für ein großes Werk nutzen will. Hier schließt sich der Kreis, denn genau dieses Buch hält der Leser mit den Bertinis in seinen Händen.

FAZIT:
Dieses Buch gegen das Vergessen übte auf mich eine große Sogwirkung aus. Ich merkte ihm bald die Leidenschaft an, mit der der Autor hier die Lebenswirklichkeit seiner Familie im Dritten Reich schildert. Es ist ihm erkennbar eine Passion, dieses Leben in all seinen Schattierungen zu schildern mit dem klaren Gedanken, einer Wiederholung des Geschehenen vorbeugen zu wollen. Es ist entlarvend hinsichtlich der Gesellschaft der Zeit, ihres Verhaltens und Unterlassens. Die Frage: was habt Ihr gewusst? Bzw. was könnt Ihr gewusst haben?, die meine Generation so häufig der Elterngeneration stellte, bekommt hierin ein authentisches Fundament für eine mögliche, fundiertere Antwort. Die Leser, die sich dieser Frage stellen wollen und an einem detailgetreuen Einblick in das alltägliche Leben im Dritten Reich interessiert sind, werden hier an der richtigen Adresse sein.
Ich empfehle dieses Buch gerne all diesen aufmerksamen Lesern.

Definition von Glück: Ungeboren bleiben!
Ein so sinnloser wie tief erschütternder Wunsch!