Rezension (5/5*) zu Die Beichte einer Nacht von Marianne Philips

Renie

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19. Mai 2014
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Schönheit und Wahn

Der Roman "Die Beichte einer Nacht" der niederländischen Autorin Marianne Philips (1886 - 1951), der erstmalig in den 1930er Jahren veröffentlicht wurde, ist in seiner Heimat ein Klassiker. Im deutschsprachigen Raum ist dieser Roman bisher kaum bekannt, wurde jetzt aber vor Kurzem vom Diogenes Verlag wiederentdeckt. Kaum zu glauben, dass es fast 90 Jahre lang dauern musste, dass dieser Roman auch hierzulande Beachtung findet. Denn "Die Beichte einer Nacht" hat es in sich, auch wenn die Erzählform im ersten Moment wenig lesekomfortabel erscheint, besteht doch dieser Roman aus einem einzigen Monolog.
Dieser Monolog wird von der Protagonistin Heleen gehalten. Sie ist mit Mitte Dreissig und befindet sich in einer Nervenklinik. Warum sie hier gelandet ist, erfahren wir nach und nach durch ihre Lebensgeschichte, welche die Frau einer Nachtschwester erzählt. Die Nachtschwester bleibt dabei für den Leser anonym. Es gibt keinerlei verbale Reaktionen auf die Erzählung von Heleen. Nur anhand der Sichtweise und einiger Kommentare von Heleen, erfahren wir, dass ihre Geschichte Wirkung auf die Schwester zeigt.

"Ich bin hier allein in meiner eigenen Hölle.
Nein, Schwester, schauen Sie nicht zur Klingel, ich bekomme keinen Anfall, ich hatte nur einen einzigen - bevor man mich hierhergebracht hat. Lassen Sie mich einfach reden."

Ihre Kindheit verbringt Heleen in ärmlichen Verhältnissen in einer Großfamilie. Als ältestes von 13 Kindern hilft sie ihrer Mutter im Haushalt und kümmert sich insbesondere um die jüngste Schwester, die 15 Jahre jünger als Heleen ist. Heleens Kapital ist ihre Schönheit, die eine große Wirkung auf Männer ausübt, so dass sie schließlich mit der "freundlichen" Unterstützung eines Mannes den Absprung von zuhause schafft. Von da an lebt sie allein, lernt, auf eigenen Füßen zu stehen, heiratet reich, lässt sich scheiden und lernt schließlich den Mann fürs Leben kennen, der sie durch sein gutes Aussehen verzaubert. Denn für Heleen ist Schönheit das Wichtigste im Leben geworden, was ihr leider zum Verhängnis wird.

Es ist erstaunlich, wie schnell die Sichtweise des Lesers auf die Protagonistin kippen wird. Anfangs empfindet man Mitleid für die junge Frau in der Nervenklinik - einem Ort, den sie selbst als die Hölle bezeichnet. Hinsichtlich der Umstände, die eine Nervenheilanstalt der damaligen Zeit mit sich brachte, ist dies nicht verwunderlich. Man kann Heleen nur mögen und mit ihr fühlen. Ihre Erzählung wirkt erstaunlich emotionslos. Gerade die Anfänge ihres Lebensweges waren von Steinen gepflastert. Dennoch finden sich keinerlei Schuldzuweisungen in ihrer Geschichte, wozu sie doch allen Grund hätte. Ihren Andeutungen entnehmen wir, dass sie Schuld auf sich geladen hat. Worin diese Schuld besteht, lässt sich zunächst nur spekulieren und löst sich erst zum Ende auf.

"Mir war längst klar, dass ich hässlich wurde, oft strich ich mit dem Zeigefinger an meinem Hals entlang und prüfte, wie ausgeprägt die Vertiefungen schon waren, die die Haut dunkel, bräunlich erscheinen lassen - ich konnte dann gut verstehen, dass Hannes mich nicht mehr so begehrte wie früher. Ich erwartete nichts anderes, wie soll man eine Frau lieben können, die hässlich ist und dazu auch noch schlecht? Ich fürchtete und ekelte mich ja vor mir selber - alles war vorbei, das stand fest."

Je mehr Heleen von ihrer Geschichte Preis gibt, umso schwieriger wird es, die Sympathie für sie aufrechtzuerhalten. Denn sie entwickelt sich zu einem Menschen, der augenscheinlich sein Leben von äußerlicher Schönheit bestimmen ließ. Diese emotionale Oberflächlichkeit steht ihr nicht gut, erklärt aber, warum die Handlung zum Ende des Romans eine Entwicklung annimmt, die an Dramatik nicht zu überbieten ist.

Die Geschichte von Heleen ist traurig und ergreifend, ihre emotionslose Erzählweise inmitten des nächtlichen Szenarios strahlt eine tiefe Melancholie aus. Dennoch ist dieser Roman ungeheuer spannend, so dass man ihn kaum zur Seite legen möchte. Wer hätte gedacht, dass ein Selbstgespräch - denn durch die Sprachlosigkeit der Nachtschwester ist es nichts anderes - solch eine atemlose Spannung hervorrufen kann.

Ein großartiger Roman!

© Renie