Rezension Rezension (5/5*) zu Die Beichte einer Nacht von Marianne Philips

Literaturhexle

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2. April 2017
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Gedankenstrom einer gepeinigten Seele

Marianne Philipps (1886-1951) war eine niederländische Autorin, die sich zu Lebzeiten stark in der Frauen- und Arbeiterbewegung engagierte. Sie schrieb insgesamt fünf Romane. „Die Beichte einer Nacht“ ist eine beeindruckende Wiederentdeckung des Diogenes-Verlages.

Ich-Erzählerin Heleen befindet sich im Schlafsaal einer Nervenklinik. Sie beschließt, der Nachtschwester ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Sie wirkt während ihres Berichts sehr klar, beobachtet und analysiert ihre Mitpatientinnen sehr genau, kennt deren Gewohnheiten und Schwächen. Man fragt sich zwangsläufig, wie Heleen in dieser Anstalt mit lauter offensichtlich psychisch Kranken landen konnte: Der Roman erschien erstmalig bereits 1930, hat man zu der Zeit nicht auch sonderbare, unbequeme Frauen weggesperrt? Aber nein, schnell schlägt die Erzählerin selbst eine andere Richtung ein, man spürt, dass es dunkle Flecken in ihrer Biografie gibt: „Sie sind eine ordentliche, nette Pflegerin, und ich bin ein schlechter Mensch, weil ich meine eigene Schwester…nein…eine Verrückte, die unter Beobachtung steht, weil ihr Anwalt das für nötig hält.“ (S. 15)

Heleen wirkt tief unglücklich und reuevoll. Sie beginnt den Bericht mit ihrer Kindheit, in der sie die Älteste von zehn Geschwistern und ständig für die neuen Babys und Kleinkinder zuständig war. Als der Vater zum Pflegefall wird, ergreift sie die Chance, bei einer Schneiderin in Stellung zu gehen, um etwas zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen und gleichzeitig Abstand von ihr zu bekommen. Doch trotz der Krankheit des Vaters kriegt die schwache, überforderte Mutter eine weitere Tochter, die Lientje genannt wird. Erneut wird von Heleen erwartet, dass sie sich um das anstrengende Schreikind kümmern soll, das insbesondere in den Nächten der großen Schwester den Schlaf raubt – obwohl diese am nächsten Tag arbeiten muss. Eine Situation, die zu eskalieren droht…

Heleen fühlt sich nicht wohl in der Armut, hat eine Liebe zu schönen Stoffen, Kleidern und Dingen, sie sehnt sich nach einem besseren Leben. Als sie die Entdeckung macht, als Frau attraktiv zu sein und eine erotische Wirkung auf Männer zu haben, weiß sie, ihre Reize einzusetzen und sich selbst damit in der gesellschaftlichen Rangordnung nach oben zu befördern. Heleen ist klug, sie kennt ihren Wert und lässt sich den Preis im übertragenden Sinn dafür zahlen. Sie lernt nacheinander drei Männer kennen. Sie weiß ihre Gaben auch im beruflichen Umfeld zu nutzen, macht für eine Frau damaliger Zeit eine erstaunliche Karriere, die sie die Welt und den Luxus kennenlernen lässt.

Immer wieder gibt es geschickt eingestreute Andeutungen, dass etwas Schreckliches passiert sein muss, dass sich Heleen schuldig gemacht hat, dass ihre große Liebe zu Hannes zerbrochen ist. Diese Lebensbeichte ist ungemein fesselnd erzählt. Heleen ist zu keinem Zeitpunkt larmoyant, sie übernimmt die volle Verantwortung für den Verlauf ihrer Geschichte: „Niemand ist Schuld an meinem Leben, nur ich selber. Es waren weder die Umstände noch die anderen Leute, da mache ich mir nichts mehr vor. Jetzt, da ich Ihnen alles erzähle, weiß ich es wieder genau – dort auf den Trottoirplatten hatte ich die Wahl.“ (S. 76)

So ganz stimmt das natürlich nicht. Ihre harte, entbehrungsreiche und gefühlsarme Kindheit hat sicherlich Spuren hinterlassen. Ein Aufstieg über Schulbildung wurde ihr verwehrt, die Chancen für Frauen waren ohnehin extrem schlecht zu diesen Zeiten.

Der Roman ist ein einziger Monolog, ein fortlaufender Gedankenstrom. Die Erzählerin legt nicht nur ihr Leben weitgehend chronologisch dar, sondern reflektiert es gleichermaßen. Sie hatte viel Zeit, um über alles nachzudenken, um sich selbst und ihre Handlungsweisen zu hinterfragen. „Bis heute ist mir unklar, warum ich ihn geheiratet habe. Ich muss taub und blind gewesen sein – oder so müde, dass mir alles egal war außer meiner eigenen Bequemlichkeit.“ (S.121) Heleen erzählt schonungslos offen mit beeindruckender Klarheit. Die Krankenschwester hat eine sehr passive Rolle. Sie sagt nichts, zeigt nur zwei Nächte hindurch in Gebärden und kleinen Reaktionen, dass sie zuhört und Anteil nimmt. Erst am Ende werden ihre Emotionen deutlicher, dass Heleen sie fragt: „Schwester, was machen Sie? Weinen Sie? Wegen mir?“ (S. 263)

Das Fehlen einer weiteren Stimme gibt dem Erzählten aus meiner Sicht eine starke Intensität und Unmittelbarkeit. Man bekommt als Leser ein tiefes Verständnis für die Protagonistin, die im Grunde lebenslang nach dem Glück sucht und es schließlich nicht festzuhalten vermag. Sie selbst fühlt sich dafür verantwortlich: Eine letzten Endes in Gang gekommene negative Gefühlsspirale endet mit der Katastrophe, die von Anfang an spürbar ist und dem Erzählten latente Melancholie und Spannung verleiht.

Mich hat diese Lebensbeichte tief beeindruckt. Der Roman ist keine leichte Lektüre, zu beklemmend ist die Thematik rund um Schuld, Sühne und Verantwortung. Er ist ein zeitloser Klassiker, der das Leben einer scheinbar starken Frau schildert, die am Ende an ihren Selbstzweifeln zerbricht. Man kann psychologisch tief in diese verwundete Seele eintauchen. Das Nachwort der Enkelin gibt Aufschluss darüber, dass die Autorin viele Dinge aus eigenem Erleben in ihren Roman eingeflochten hat.

Unbedingt lesenswert!