Rezension Rezension (5/5*) zu Die Bagage von Monika Helfer.

Barbara62

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19. März 2020
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Baden-Württemberg
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Buchinformationen und Rezensionen zu Die Bagage von Monika Helfer
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Schwierige Herkunft


Der Roman beginnt fast idyllisch mit einer Frau, die Wäsche zwischen zwei Kirschbäumen aufhängt, wäre da nicht der Schatten, der auf das Haus fällt. Die Frau ist Maria Moosburger, Großmutter der österreichischen Autorin Monika Helfer, das Haus liegt im hintersten Bregenzerwald und die Familie mit vier Kindern lebt ganz hinten im Tal, abgeschieden und bitterarm:

"Sie wohnten dort, weil ihre Vorfahren später gekommen waren als die anderen und der Boden am billigsten war, und am billigsten war der Boden, weil die Arbeit auf ihm so hart war. Am letzten Ende hinten oben wohnten Maria und Josef mit ihrer Familie. Man nannte sie „die Bagage“. Das stand damals noch lange Zeit für „das Aufgeladene“, weil der Vater und der Großvater von Josef Träger gewesen waren, […] und im Sommer übermannshohe Heuballen in die Scheunen der Bauern trugen, das war der unterste aller Berufe, unter dem des Knechts."

Verhängnisvolle Schönheit
Nur um eines wird Maria beneidet: ihre legendäre Schönheit. Doch genau die wird ihr zum Verhängnis, als ihr Mann Josef, mit seinen zweifelhaften Geschäften Ernährer der Familie, im September 1914 eingezogen wird. Angesichts der gierigen Blicke der Männer bittet er seinen Geschäftspartner und Bürgermeister, auf Maria aufzupassen, macht damit jedoch den Bock zum Gärtner. Tatsächlich verliebt sich Maria bei einem Jahrmarktsbesuch in Georg aus Hannover, der sie und die Kinder auf dem Hof sogar besucht, aber mehr als ein Kuss ist nicht überliefert. Der Bürgermeister jedoch sieht spätestens jetzt seine Chance gekommen und Maria muss ihre Kinder als Schutzschilde einsetzen. Wer der Vater der kleinen Grete ist, die einige Monate später zur Welt kommt, wird nie geklärt: Georg, der Bürgermeister oder doch Josef, der zweimal im Fronturlaub zuhause war? Das Dorf, allen voran der Pfarrer und der Lehrer, ist sich jedenfalls sicher: Maria ist eine Hure, die „Bagage“ Abschaum. Auch Josef zweifelt trotz Marias Schwüren. Nie richtet er das Wort an Grete, vor der er sich ekelt, nie verprügelt er sie, um sie nicht zu berühren. Seinen anderen sechs Kindern dagegen, zwei davon nach dem Krieg geboren, ist er ein liebevoller Vater.

Eine große Erzählerin
Maria Moosburger starb mit 32 Jahren, Josef nur ein Jahr später, und auch Monika Helfers zeitlebens ein wenig seltsame und zurückgezogene Mutter Grete verstarb jung. Fortan kümmerte sich die strenge Tante Kathe, die älteste Schwester Gretes, um ihre drei verwaisten Nichten. Im hohen Alter erzählte sie von der „Bagage“ und die 1947 in Au im Bregenzerwald geborene Monika Helfer brachte die Geschichte ihrer Familie nun in Romanform zu Papier. Kaum 160 Seiten umfasst dieser zwischen vier Generationen pendelnde Roman, unglaublich bei der Fülle an Figuren und Schicksalen. Wie Skizzen wirken die Figurenzeichnungen, ohne Wertung, sprachlich äußerst knapp und doch ungeheuer lebendig. Wie jede und jeder von ihnen mit der Last seiner Herkunft auf eigene Art und Weise durchs Leben ging und geht, erzählt Monika Helfer ohne Dramatik und vor allem ohne Pathos und Kitsch. Eine ganz große Erzählerin und ein Highlight in diesem Literaturfrühling 2020.


 
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