Rezension (5/5*) zu Die Bäume: Roman von Percival Everett

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Wenn sich Rassismus vererbt

Die Kleinstadt Money im US-Bundesstaat Mississippi im Jahr 2018: Innerhalb kurzer Zeit werden mehrere weiße Hinterwäldler auf brutalste Weise ermordet. Das Bizarre daran ist, dass an den Tatorten jeweils eine zweite, ebenfalls übel zugerichtete Leiche aufgefunden wird, und zwar die eines Schwarzen. Die provinziellen Ermittler sind schnell überfordert, zumal sich die Mordserie bald ausweitet…

„Die Bäume“ ist ein Roman von Percival Everett.

Meine Meinung:
Der Roman ist in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich. Das zeigt sich bereits bei dessen Struktur. 108 kurze Kapitel sind auf den rund 350 Seiten aneinandergereiht. Örtlichkeiten und Personen wechseln also in schneller Reihenfolge ab. Erzählt wird aus einer auktorialen Perspektive.

Der Erzählstil ist dialoglastig und von einer recht einfachen Syntax geprägt. In Kombination mit den kurzen Szenen erinnert der Roman dadurch an ein Drehbuch. Dennoch ist der Schreibstil auf den zweiten Blick alles andere als banal. Besonders gut hat mir der Sprachwitz gefallen, der sich durchs ganze Buch zieht. Der Autor spielt beispielsweise auf sehr amüsante Weise mit Namen und Begriffen.

Die Übersetzung von Nikolaus Stingl habe ich trotz ihrer Schwächen insgesamt als noch akzeptabel empfunden. Nach der Lektüre könnte ich mir jedoch vorstellen, dass es sich - sprachlich gesehen - lohnen könnte, den Roman im Original zu lesen.

Das Personal ist sehr umfangreich. Vor allem zu Beginn ist es mir nicht leicht gefallen, die vielen Haupt- und noch zahlreicheren Nebenfiguren zu sortieren. Die Verwirrung hielt aber nur kurz an. Die Charaktere sind zum Teil sehr überzeichnet. Das hat mein Lesevergnügen allerdings noch gesteigert.

Bei dem Roman handelt es sich um einen Genremix. Die Geschichte enthält Krimi-, Horror- und Mysteryelemente und ist zugleich eine Gesellschaftssatire.

Inhaltlich geht es vor allem um den Rassismus und seine Folgen. Der Schwerpunkt liegt auf den Lynchmorden in den Südstaaten der USA. Die menschlichen Abgründe, die in diesem Zusammenhang geschildert werden, machen nachdenklich und betroffen. Obwohl einige Hintergründe ihren Ursprung in der Vergangenheit haben, hat das Thema nichts von seiner Aktualität eingebüßt, wie die „Black lives matter“-Bewegung und deren Motive deutlich werden lassen. Zudem lässt der Roman Raum für eigene Interpretationen.

Die Geschichte überrascht mit einigen Wendungen. Obwohl sie viel Tiefgang besitzt, bleibt das Tempo hoch. Ganz zum Schluss hat mich der Roman mit der außergewöhnlichen Auflösung ein bisschen verloren. Das schmälert den Lesegenuss aber nur wenig.

Der deutsche Titel ist wortgetreu aus dem englischsprachigen Original („The Trees“) übersetzt. Er ist zwar durchaus passend, erschließt sich aber nicht sofort. Das Cover gefällt mir dafür umso besser, weil es auf mehreren Ebenen sehr stimmig ist.

Mein Fazit:
Für seinen Roman „Die Bäume“ wurde Percival Everett völlig zurecht für den Booker-Prize 2022 nominiert. Sowohl in inhaltlicher als auch sprachlicher Hinsicht eine äußerst empfehlenswerte Lektüre, die mich nicht nur sehr gut unterhalten, sondern auch berührt hat. Ich kann mir für diese wichtige Geschichte eine Hollywood-Verfilmung prima vorstellen.

von: Sofi Oksanen
von: Andrej Kurkow
von: Anna Katharina Hahn
 
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