Rezension (5/5*) zu Die Bäume: Roman von Percival Everett

RuLeka

Bekanntes Mitglied
30. Januar 2018
6.527
24.557
49
66
Leider konnten wir zu diesem Buch keine Daten ermitteln.
Das Lachen bleibt im Halse stecken


Percival Everett, 1956 in Georgia geboren, hat bereits mehr als zwanzig Romane veröffentlicht. Doch in Deutschland hat er bisher nicht die Beachtung gefunden, die er verdient. Das dürfte sich nun ändern. Sein letzter Roman „ Erschütterung“ wurde hierzulande von der Kritik schon hochgelobt und auch „ Die Bäume“ bekommt viel Aufmerksamkeit. Er wagt hier viel und die Rechnung scheint aufzugehen.
Wir sind im tiefen Süden der USA, in der Kleinstadt Money in Mississippi. Hier ticken die Uhren noch anders. „ Wir sind hier nicht in der Großstadt. Wir sind hier noch nicht mal im einundzwanzigsten Jahrhundert. Wir sind ja kaum im zwanzigsten, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
In Money glaubt man immer nach wie vor an die Überlegenheit der weißen Rasse, der Ku Klux Klan findet noch regen Zulauf. „ Eines gilt für jeden Weißen in diesem County: Wenn er nicht selber jemanden gelyncht hat, dann hat es jemand in seinem Stammbaum getan.“
Nun passieren hier hintereinander mehrere Morde an weißen „ Rednecks“ und alle weisen das gleiche Muster auf. Neben dem brutal ermordeten Weißen liegt jedes Mal ein ebenfalls toter schwarzer Mann mit den abgetrennten Hoden des weißen Opfers in der Hand. Doch damit nicht genug. Der tote Schwarze verschwindet auf mysteriöse Weise aus dem Leichenhaus oder auf dem Weg dahin. Und es scheint sich auch jedes Mal um denselben toten Schwarzen zu handeln.
Die weiße Bevölkerung ist entsetzt, die Morde schlagen hohe Wellen. Der örtliche Sheriff ist mit der Situation heillos überfordert und er bekommt deshalb von oberer Stelle zwei schwarze Detectives zur Seite gestellt: Ed Morgan und Jim Davis vom „ Mississippi Bureau of Investigation“. Die erkennen bald eine frappierende Ähnlichkeit zwischen der schwarzen Leiche und Emmett Till. ( Hier verweist Everett auf ein tatsächliches Ereignis.) Jenem Emmett Till, der 1955 in Money einem Lynchmord zum Opfer fiel. Dem Vierzehnjährigen wurde vorgeworfen, eine weiße Frau belästigt zu haben. Daraufhin wurde er von deren Ehemann und dessen Halbbruder verschleppt und ermordet. Eine ausschließlich mit Weißen besetzte Jury sprach die Täter anschließend aber frei. Jahre später gab die Frau zu, dass gar nichts vorgefallen war.
Und wie sich bald herausstellen sollte , handelt es sich bei den Ermordeten von Money um die Nachkommen jener Mörder.
Die beiden Detectives Ed und Jim beginnen mit ihren Ermittlungen; ihnen wird mit Herberta Hind vom FBI eine weitere schwarze Agentin zur Seite gestellt.
Eine Spur führt sie zu „ Mama Z“, einer 105 Jahre alten Afroamerikanerin, die in ihrem Haus ein Archiv angelegt hat, das sämtliche Lynchmorde in den USA seit 1913 dokumentiert. Hier finden sich nicht nur Schwarze, sondern auch Menschen mit asiatischen und lateinamerikanischen Wurzeln. Auf beeindruckende Weise würdigt Everett diese Opfer, indem er 11 Seiten des Romans nur mit ihren Namen bedruckt.
Es kommt noch zu weiteren ähnlichen Morden in anderen Bundesstaaten. Das Ganze eskaliert auf rätselhafte Weise.

Der Roman mischt sehr gekonnt verschiedene Genres. Slapstick, Thriller und Horror verbinden sich mit surrealen Elementen.
Dabei bedient Everett sämtliche Klischees.
Das Detective-Duo liefert sich in pointenreichen Dialogen einen Schlagabtausch, wie man es aus zahlreichen Krimis kennt.
Die Einwohner von Money verkörpern perfekt das Klischee vom tumben Hinterwäldler: Die Männer dick, arbeitsscheu und ständig betrunken, die Frauen frustriert und zänkisch. Auf dem Schild des örtlichen Diners steht „ Dinah“, weil die Besitzerin die Orthographie nur mangelhaft beherrscht.
Der Autor scheint seinen Spaß gehabt zu haben beim Schreiben. Den möglichen Vorwurf, politisch nicht korrekt zu sein, wenn er die Weißen im Buch so stereotyp darstellt, weist er zurück. „ Es ein Lehrbeispiel dafür, was schwarze Amerikaner:innen seit Jahrhunderten in Literatur und Film erfahren. Ja, ich bin unfair in diesem Roman. Meine Frage an alle, die sich an der Darstellung stören, lautet: „Wie fühlt es sich an?“ so der Autor in einem Interview.

Doch bei allem Witz und Klamauk geht es in diesem Roman um ein sehr ernstes Thema. Dem Leser bleibt oftmals das Lachen im Halse stecken.
Everett prangt hier auf jeder Seite den alltäglichen Rassismus in den USA an. Er lässt die weißen Rassisten reden, wie sie es tatsächlich tun, d.h. das N- Wort kommt, meist in seiner übelsten Form, ständig vor. Und auch sonst hält sich hier niemand an politisch korrekten Sprachgebrauch. Es geht derb und oft vulgär zur Sache. Daran darf man sich nicht stören. Ist es doch nur Ausdruck für eine Denkweise, die noch viel zu oft anzutreffen ist.
Und Schwarze sind nach wie vor permanenter Gewalt ausgesetzt. „ Alle reden von Völkermord überall auf der Welt, aber wenn das Morden langsam stattfindet und auf hundert Jahre verteilt, nimmt es keiner wahr. Die Empörung in Amerika ist immer nur Show. Sie hat ein Verfallsdatum.“
Der Titel „ Die Bäume“ bezieht sich auf einen Song von Billie Holiday „ Strange Fruits“ und meint die Leiche eines Schwarzen, der als „ sonderbare Frucht“ an einem Baum hängt.

Percival Everett ist mit „ Die Bäume“ das Kunststück gelungen, Witz und bissigen Humor mit dem bitterernsten Thema Rassismus zu verbinden. Die Figuren werden absichtlich überzeichnet, Wortspiele und Wortwitz sorgen für Lesespaß, ebenso wie die filmreifen Szenen und Dialogen. Darüber vergisst der Leser aber nie die tiefere Botschaft des Romans.
Völlig verdient stand das Buch voriges Jahr auf der Shortlist des Booker Prize.
Für mich war es ein ungewöhnliches Leseerlebnis, das lange im Gedächtnis bleibt.

 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.444
49.885
49
Alternativ greife ich vielleicht auf das Hörbuch zurück.
Das sollte sich auch auf dem Medium wunderbar umsetzen lassen.
Ich höre gerade "Mittelalte Männer" von Richard Russo. Ich weiß nicht, ob mir das Buch ebenso gut gefallen würde wie das Hörbuch, das wirklich brillant und stimmenreich präsentiert wird.
 
  • Hilfreicher Buchtipp
Reaktionen: Barbara62

Barbara62

Bekanntes Mitglied
19. März 2020
3.879
14.832
49
Baden-Württemberg
mit-büchern-um-die-welt.de
Ich habe jetzt "Erschütterung" gehört und war ehrlich gesagt enttäuscht. Viel zu viele Themen, für mich in unglücklicher Gewichtung vermengt, und ein Protagonist, in den ich mich nicht hineinversetzen konnte. Außer mir scheinen aber alle begeistert gewesen zu sein. Ich versuche es trotzdem nochmal mit "Bäume", denn erzählen kann Percival Everett zweifellos.
 

alasca

Bekanntes Mitglied
13. Juni 2022
3.036
9.662
49
Ich habe jetzt "Erschütterung" gehört und war ehrlich gesagt enttäuscht. Viel zu viele Themen, für mich in unglücklicher Gewichtung vermengt, und ein Protagonist, in den ich mich nicht hineinversetzen konnte. Außer mir scheinen aber alle begeistert gewesen zu sein. Ich versuche es trotzdem nochmal mit "Bäume", denn erzählen kann Percival Everett zweifellos.
"Erschütterung" war der Grund, warum ich auf die LR "Die Bäume" verzichtet habe. Nun habe ich die Bäume doch noch gelesen - es hat sich gelohnt, auch wenn ich auf dem letzten Drittel nicht mehr ganz mitkam - ein Professor, der Lynchtote ins Leben schreibt, die Lynchmorde begehen. Schon ein krasser Stoff. Aber auch sehr originell.