Rezension (5/5*) zu Die Bäume: Roman von Percival Everett

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.552
16.305
49
Rhönrand bei Fulda
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In den Abgrund hineinschauen

"Ich hab über was nachgedacht, was ich lieber nicht getan hätte. Ich hab über die Lüge nachgedacht, die ich vor so vielen Jahren über diesen Nigger-Jungen erzählt hab." (S.16)

Die Bemerkung von "Granny" Carolyn Bryant, die mit einem Elektrorollstuhl im Garten ihres Sohnes Wheat Bryant umherfährt, macht deutlich, wo wir uns befinden: im echten White Trash-Milieu von Money, Mississippi. Hier trinkt der seit langem arbeitslose Wheat eine Dose Bier nach der anderen und überlegt allen Ernstes, in seinem löchrigen Außenpool Schweine zu halten. Die fragwürdige Idylle findet schnell ein Ende. Kurz danach wird Wheat tot aufgefunden, mit einem Strang Stacheldraht um den Hals und abgerissenen Hoden. Die letzteren hält ein "schmächtiger Schwarzer" in der Hand, der ebenfalls tot und übel zugerichtet neben Wheats Leiche liegt.

Für die Provinzpolizisten, die den Tatort aufnehmen, steht sofort fest: Der "Nigger" hat einen aufrechten weißen Bürger umgebracht. Kurz darauf verschwindet aber die Leiche jenes Schwarzen aus dem Obduktionsraum, um neben einem weiteren weißen Toten mit abgerissenen Hoden wieder aufzutauchen. Diesmal ist es J.J.Bryant, ein Schwager des ermordeten Wheat. Und wieder löst sich die mysteriöse dunkelhäutige Leiche danach in Luft auf.

Auf die ersten Kapitel dieses Romans, die wie eine finstere Milieugroteske anmuten, kann man sich wenigstens teilweise einen Reim machen. Der wandelnde dunkelhäutige Tote gleicht Emmett Till, der 1955 im Alter von vierzehn Jahren in Money, Mississippi von mehreren Mitgliedern der Familie Bryant grausam gelyncht wurde; die alte Granny Carolyn, damals eine junge Frau, gab die Einpeitscherin. Die Umstände werden in unserem Buch kurz berichtet und sind auch im Netz nachzulesen. Weitere Morde häufen sich. Am Tatort jedes Mal ein dunkelhäutiger Toter mit den Hoden des gleichfalls toten Weißen in der Hand. Da die örtliche Polizei offenbar zu tumb ist, um damit fertig zu werden, treten zwei Ermittler namens Jim und Ed auf den Plan, beide vom Mississippi Bureau of Investigation und beide dunkelhäutig. Kurz darauf mischt sich auch das FBI ein in Gestalt von Herberta Hind, ebenfalls farbig. Dass diese drei einen anderen Ermittlungsansatz haben als die Redneck-Polizisten vor Ort, versteht sich von selbst. Insbesondere nehmen sie Kontakt auf zu der hundertfünfjährigen Mama Z, die eine Akte führt "über jede Person, die seit 1913 in diesem Land gelyncht wurde". Die Akten füllen ein ganzes Zimmer vom Boden bis zur Decke. Und dass es sich in der Regel um Morde an nichtweißen Personen, begangen von "aufrechten Weißen" handelt, versteht sich auch von selbst.


"Bäume" ist ein gallebitteres Buch voll grotesker Komik, das die Wurzel jeder Art von Rassismus gnadenlos aufzeigt: Dummheit. Die Redneck-Polizisten, für die eine schwarze Leiche am Tatort entweder "der Mörder" oder bloße Deko ist, der nicht totzukriegende Kuklux-Klan, der "orangefarbene" Präsident - alle werden in ihrer geistigen Begrenztheit nach Strich und Faden bloßgestellt. Demgegenüber steht eine nicht enden wollende Liste von Lynchmorden, die nie aufgeklärt wurden; abgetan als Selbstmorde oder Taten des aufrechten Volkszorns. Wer möchte, kann beim Lesen dieses Romans alle paar Seiten Namen von Ermordeten googeln - vermutlich sind amerikanischen Lesern und Leserinnen viele Namen geläufiger als uns.
"Die Leiche von Julius Lynch (1913 in Hattiesburg, MS, an einem Baum hängend gefunden) wurde von seinem Bruder beansprucht. Es wurde niemand verhört. Es wurden keine Verdächtigen ermittelt. Es wurde niemand verhaftet. Es wurde niemand angeklagt. Es kümmerte niemanden." (S. 195)

Zu Aufbau und Stil: Die Handlung wird in etwas über 100 meist kurzen und dialoglastigen Kapiteln Szene für Szene erzählt; der Sprachgebrauch ist schlicht und taff, dem Milieu angepasst. Die beinahe durchgehende Kameraperspektive - man könnte den Roman beinahe wie ein Drehbuch lesen - wirkt auf mich persönlich nach einiger Zeit etwas ermüdend (passt aber zu Thema und Setting). Die grimmige Lesefreude, insbesondere die Freude an der schwarzhumorigen Komik, die die meisten Mitgliedern der Leserunde bekundet haben, ist mir deshalb vielleicht zum Teil entgangen. Das ändert nichts an der Wichtigkeit dieses Buches, das thematisch bis ins Mark trifft, egal ob man in den Südstaaten der USA wohnt oder wo auch immer.
Eine Auflösung der Mordfälle im Sinne eines Krimis sollte man nicht erwarten. "Bäume" ist weder ein Krimi noch eine Milieustudie im üblichen Sinn. Am ehesten könnte man wohl von Sozialgroteske sprechen. Wer sich auf rabenschwarze Art unterhalten und das rassistische Südstaatenmilieu gnadenlos überzeichnet dargestellt erlesen möchte, wird mit "Bäume" gut bedient. Es erinnert aber auch auf eindringliche Art an das, was niemals vergessen werden darf. Nietzsches berühmter Ausspruch vom Abgrund, der in den Betrachter zurückblickt, passte nie besser als auf dieses Buch. Unbedingt lesen!




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