Rezension (5/5*) zu Deutsches Haus von Annette Hess

missalissa

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23. Juni 2022
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Deutsche Schuld

Frankfurt 1963: Eva Bruhns bekommt durch Zufall die Gelegenheit beim ersten Ausschwitz-Prozess zu übersetzen. Sie ist Dolmetscherin für Polnisch. Ihre Eltern, ihre ältere Schwester und ihr Verlobter reagieren ablehnend. Sie drängen Eva, den Auftrag abzulehnen. Doch eine ihr unbegreifliche Kraft lässt sie nicht vom Thema Ausschwitz loskommen, sodass sie sich doch darauf einlässt. Es beginnt ein Jahrhundertprozess, der Eva die Augen für das Ausmaß deutscher Schuld öffnet und letztendlich auch ihr eigenes Leben auf den Kopf stellt.

Die Autorin Annette Hess hat Szenisches Schreiben studiert und vor ihrem Romandebüt Drehbücher geschrieben. Das prägt den Stil in "Deutsches Haus". Die einzelnen Abschnitte der Erzählung sind sprachlich und formal wie Szenen dargestellt. Die Sprache ist nüchtern gehalten und auf das Wesentliche beschränkt. Trotzdem gelingt es Annette Hess -vor allem durch die Dialoge- sehr lebendige Charaktere zu entwerfen. Ich habe die Hauptfigur Eva Bruhns beim Lesen sehr lieb gewonnen und die Erzählung mit Spannung verfolgt. Oft fiel es schwer, das Buch aus der Hand zu legen, weil ich unbedingt wissen wollte, was der nächste Zeuge im Gericht aussagt oder welche privaten Entdeckungen Eva macht. In der Abschlussnotiz im Buch gibt die Autorin an, teilweise Originalzitate für die Zeugenaussagen verwendet zu haben. An anderer Stelle hat sie Aussagen zusammengeführt, um durch künstlerische Verdichtung so vielen Stimmen wie möglich Raum zu geben. Obwohl die Personen im Roman in der Regel fiktiv sind, hat sich die Autorin, soweit ich beurteilen kann, bemüht, die Randbedingungen des Prozesses sehr realitätsgetreu abzubilden.

Ich fand es interessant, dass in der Erzählung einige Personen aus Evas persönlichem Umfeld eine böse Seite haben, aber so damit umgehen, dass sie gewisse Vorfälle als der Vergangenheit angehörend abtun und in der Gegenwart nicht mehr darüber sprechen. Das kann man auf den damals wohl vorherrschenden Umgang mit dem Holocaust übertragen. Anscheinend gab es in der deutschen Öffentlichkeit kaum Rückhalt für diesen Prozess. Die meisten Deutschen wollten ihre Schuld verdrängen oder kleinreden. Eva dagegen macht es am Ende genau umgekehrt. Ich finde, sie lädt am Ende zu viel fremde Schuld auf ihre Schultern...

 
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