Rezension (5/5*) zu Der Verdacht: Roman von Ashley Audrain

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.637
16.694
49
Rhönrand bei Fulda
Literarischer Psychothriller

Mutterfreuden und die Opferbereitschaft von Müttern haben eine lange Tradition in der Literatur. Die Plackerei, die Selbstzweifel und die Einsamkeit junger Mütter werden dagegen erst seit vergleichsweise kurzer Zeit in Romanen thematisiert. Und Bücher über Mütter, die ihren eigenen Kindern von Anfang an nicht über den Weg trauen, gibt es nur ganz wenige. "Der Verdacht" ist eines davon. Blythe und Fox haben nach einer Phase heftiger, überzeugter Verliebtheit eine Familie gegründet. Mit der Geburt der Tochter Violet ändert sich die Beziehung der beiden. Violet ist ein Schreikind, strapaziert die junge Mutter aufs Äußerste und scheint sich nur beim Papa richtig wohlzufühlen. Blythe, die selbst keine Mutterliebe erfahren hat, möchte alles gern richtig machen, fühlt sich aber von der Tochter von Anfang an abgelehnt. Im Kindergarten und später in der Schule fällt Violet mehrfach durch aggressive Attacken gegen andere Kinder auf - aber nie so gravierend, dass es ernsthafte Hilfsangebote gibt. Man drückt beide Augen zu, Blythe bleibt mit ihren Ängsten allein bis zur Katastrophe, die zur Zerstörung der Familie führt (was bereits im Prolog angedeuetet wird).

"Der Verdacht" ähnelt sowohl thematisch als auch in der Erzählstruktur dem berühmten, mit Tilda Swinton verfilmten Roman "Wir müssen über Kevin reden" von Lionel Shriver. Auch die Ich-Erzählerin Blythe wendet sich per "Du" an den Vater der gemeinsamen Tochter; übrigens ohne jeden Vorwurf, manchmal selbstbezichtigend und um Verständnis werbend. Der gleichmäßig liebevolle, herzenswarme Unterton dieser "Du"-Ansprachen ist ein großes Plus des Buches und lässt wohl keinen Leser kalt. Im Unterschied zu Lionel Shrivers Roman findet Ashley Audrain aber den Bogen bis zurück zu Blythes Großelterngeneration. Die Kapitel, die von Blythes Großmutter und danach ihrer Mutter handeln, sind nicht von Blythe, sondern in der dritten Person erzählt und zeigen auf, wie ungewollt und unverschuldet Ängste und Zweifel von einer Generation in die nächste getragen werden.

In einem dem Buch vorangestellten Zitat von Layne Redmond heißt es: "Alle Eier, die sich in einer Frau in ihrem Leben entwickeln werden, bilden sich (...) in ihren Eierstöcken, während sie noch als vier Monate alter Fötus im Bauch ihrer Mutter schwimmt. Das bedeutet, dass unser zelluläres Leben als Ei im Schoß unserer Großmutter beginnt. (...) Wir schwingen im Rhythmus des Blutes unserer Mutter, noch bevor sie selbst geboren ist." Zu sagen, es handle sich hier um einen finsteren Roman, in dem die Sünden der Eltern, wie es in der Bibel heißt, an den Kindern heimgesucht werden, greift aber entschieden zu kurz. Das Buch zeigt, besonders im letzten Drittel, Chancen zur Selbstheilung auf. Es demonstriert an einem Gegenbeispiel, wie die Einsamkeit einer jungen Mutter mit dem Neugeborenen manchmal auch Schutzraum sein kann. Und, vor allem, es fordert immer wieder dazu auf, kritisch zu sein, die Dinge unvoreingenommen zu sehen, die eigene Sicht in Frage zu stellen. Denn Blythe, wird nach und nach klar, ist möglicherweise keine ganz zuverlässige Erzählerin.

"Der Verdacht" ist ein äußerst kunstvolles, gelungenes Buch: sehr spannend zu lesen, mit großer stilistischer Eleganz und Einfühlsamkeit erzählt, psychologisch tiefschürfend und auf trickreiche Weise doppelbödig. Dicke Leseempfehlung, gern übrigens auch für Liebhaberinnen literarischer Psychothriller.




 

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.637
16.694
49
Rhönrand bei Fulda
Es freut mich riesig, dass dich das Buch auch so begeistert hat wie mich!
Tolle Rezension, auf den Punkt das Wesentliche - natürlich ohne Spoiler :joy
Die Wendungen am Schluss - wenn man von Wendungen überhaupt sprechen kann -, also die Überlegungen und Erinnerungen im letzten Viertel haben mir geradezu den Atem stocken lassen. Das ist ein geniales, psychologisch absolut überzeugendes Buch!
 

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