Rezension Rezension (5/5*) zu Der Sprung von Simone Lappert.

Renie

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19. Mai 2014
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ein mikroskopischer Sprachstil

Da steht eine auf dem Dach eines Mietshauses in einer Kleinstadt und droht in die Tiefe zu springen. Springt sie jetzt oder springt sie nicht? So viel ist sicher, sie wird springen. Denn damit fängt der Roman "Der Sprung" der Schweizerin Simone Lappert schließlich an. Und so ein Sprung kann sehr lange dauern. Der Leser erlebt den freien Fall aus der Perspektive der scheinbar lebensmüden Person. Und Millisekunden werden zu Minuten. Erstaunlich, wie man solch einen Moment wahrnimmt. Da wird jede Bewegung und jeder Luftzug registriert. Der Ablauf des freien Falls wird mikroskopisch zerlegt.

Stichwort "mikroskopisch". Wenn ich Simone Lapperts Sprachstil mit einem Wort charakterisieren sollte, dann ist es dieses: mikroskopisch. Die Autorin hat einen Blick für Details. Akribisch seziert sie jede noch so banale Situation und arbeitet Feinheiten heraus, die man bei den meisten Autoren überlesen hätte. Ihr Text strahlt dadurch eine Intensität aus, die in jeder Hinsicht zunahe geht. Mal in trauriger Hinsicht, aber auch manchmal in komischer Hinsicht. Man ist somit ganz dicht an der Handlung und den Charakteren dran.

Nächstes Stichwort: "Charaktere"
Nun sollte man meinen, dass bei einem Beginn wie diesem diejenige Person, die vom Dach fällt im Mittelpunkt des Romans steht. Schließlich möchte der Leser wissen, was sie dazu bewogen hat, vom Dach zu springen. Doch weit gefehlt. Diese Person ist nur eine von vielen Protagonisten.
Thalbach ist eine Kleinstadt. Hier passiert nicht viel. Die Menschen, die hier leben, kennen sich vom sehen und leben nebeneinander her. Nun verbindet sie auf einmal dieses sensationelle Ereignis um eine Lebensmüde. Simone Lappert lenkt den Blick auf andere Bewohner in diesem Ort. Es entwickeln sich mehrere Handlungsstränge in deren Mittelpunkt eine andere Person steht: Erna, Manu, Astrid, Felix, Finn, Maren ..... Dies sind die Überschriften der Kapitel. Und hinter jedem Namen steckt eine Geschichte. Es sind Menschen wie du und ich, die sich irgendwie durch den Alltag manövrieren, die Träume haben und die eine Vergangenheit haben. Die Gemeinsamkeit, die sie verbindet, ist der Ort. Die meisten sind sich fremd. Viele kennen sich vom Sehen. Nur die wenigsten haben einen Bezug zu der Lebensmüden. Und jeder hat etwas Besonderes an sich. Das kann die Frau mit einem besonderen Hobby sein. Oder der Mann, mit einem besonderen Traum. Oder der Mann mit einem traumatischen Erlebnis in seiner Kindheit. Oder der Mann mit einer vielversprechenden Zukunft und und und. Gleichzeitig verbindet sie eine Traurigkeit, die zunahe geht. Es ist die Sehnsucht nach einem anderen Leben als das, was sie bisher geführt haben.
So erzählt Simone Lappert die Geschichten der Einwohner scheinbar losgelöst voneinander. Doch dank eines genialen stilistischen Kniffs, schafft sie Anknüpfungspunkte zwischen den einzelnen Handlungssträngen. Es sind Kleinigkeiten, die die Geschichten miteinander verbinden und somit aus den einzelnen Geschichten ein großes Ganzes machen. Das kann zum Beispil ein Hut sein, der in mehreren Szenen auftaucht und von Protagonist zu Protagonist weitergereicht wird.

Ich habe diesen Roman von der ersten bis zur letzten Zeile genossen. Daher hat es mich umso mehr gefreut, dass Simone Lappert mit diesem Buch für den Schweizerischen Buchpreis nominiert ist. Am Ende hat eine andere gewonnen. Doch für mich ist Simone Lappert mit ihrem Roman meine persönliche Gewinnerin.

© Renie