Rezension Rezension (5/5*) zu Der Neue von Tracy Chevalier

Renie

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19. Mai 2014
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Othello in neuem Gewand

Was bin ich im Englischunterricht mit Shakespeare gequält worden. Aber wie bei so vielen literarischen Werken, die mir in der Schule aufgezwungen wurden, weiß ich erst jetzt, diese zu schätzen. Interessant finde ich daher ein Projekt, das in Deutschland im April 2016 startete, anlässlich des 400. Todestages von Shakespeare: International bekannte und erfolgreiche Autoren haben die Möglichkeit, ein Werk von Shakespeare auf ihre spezielle und persönliche Art und Weise neu zu erzählen. Der Knaus Verlag - als deutscher Partner dieses Projektes (federführend ist The Hogarth Press, UK) - hat bereits etliche Shakespeare Neuerzählungen veröffentlicht. Eine davon stammt von Tracy Chevalier, welche sich mit "Der Neue" der Tragödie "Othello" angenommen hat.

"Othello", in seiner ursprünglichen Form, ist schnell erzählt: Im Großen und Ganzen geht es um Liebe, Verrat und Eifersucht. Also Themen, die immer aktuell und für einen Bestseller gut sind. Othello ist ein schwarzer Feldherr im Venedig des 15. Jahrhunderts, der sich in die schöne Desdemona verguckt ... und sie sich auch in ihn. Auch andere haben ein Auge auf Desdemona geworfen. Der böse Bube in dieser Geschichte ist Jago, ein Untergebener Othellos und Meister der Intrige. Ob durch Eifersucht, Fremdenhass oder purer Boshaftigkeit ... Jago schafft es am Ende, unter Mithilfe anderer Beteiligter, die er schachfigurengleich in seinem Intrigenspiel einsetzt, dass Othello übelst eifersüchtig auf Desdemona wird und die Arme am Ende umbringt. Falsche Entscheidung! Denn nachdem er erfährt, dass Desdemona unschuldig war, nimmt er sich selbst auf spektakuläre Weise das Leben.

Tracy Chevalier hat in ihrer Version einen Schauplatz gewählt, der herzlich wenig mit dem malerischen und prunkvollen Shakespeare-Venedig zu tun hat: ein amerikanischer Schulhof im Amerika der 70er Jahre; und ihr "Othello" ist kein Feldherr sondern ein 14-jähriger farbiger Schüler.

"Was auch immer er in diesem Moment dachte (wahrscheinlich, dass er auf einem von weißen Menschen wimmelnden Schulhof der einzige Schwarze und der einzige Neue war), als er auf die an der Tür zum Schulgebäude wartenden Lehrer zuschlenderte, strahlte er das Selbstbewusstsein eines Menschen aus, der seinen Körper kennt und sich darin wohlfühlt."

Bei der Namensgebung hat sich die Autorin an dem Original orientiert:
Othello = Osei, ein afrikanischer Diplomatensohn, der seinen ersten Tag an dieser Schule verbringt; und man wundert sich, welche Tragödien sich auf einem Schulhof abspielen können
Desdemona = Dee, wohlbehütete Tochter, gutaussehend, Lehrerliebling, die von Osei magisch angezogen wird, da er für sie ein anderes Leben als ihres verkörpert; so ganz nebenbei sieht er auch noch gut aus, hat wenig pubertäres und rüpelhaftes Gehabe an sich, wie andere Jungs seines Alters
Jago = Ian, der Schrecken der Schule, leicht gestört, hat Spaß daran, andere zu schikanieren und zu manipulieren; definiert sich über die Angst, die andere vor ihm haben
(Dies sind die 3 Hauptcharaktere. Auch die Nebencharaktere sind von Tracy Chevalier selbstverständlich in Bezug zum Original angelegt.)

Osei hat seinen ersten Tag an der Schule in dieser amerikanischen Kleinstadt. Er ist der einzige Farbige. Dementsprechend trifft er auf viel Be- und Verachtung.
Kaum zu glauben, aber auch im Lehrerkollegium hält man sich nicht mit rassistischen Äußerungen zurück. Nur wenige Kinder begegnen ihm freundlich. Eine davon ist Dee, die sich schnell in ihn verguckt. Die Empfindungen beruhen auf Gegenseitigkeit und bereits in der ersten Pause, wird die Beziehung klar gemacht. Dee und Osei „gehen“ also miteinander. Ian passt nicht, dass Osei so viel Beachtung erhält. Daher spinnt er ein Netz aus Intrigen. Und mit Schulschluss kommt es zum Supergau.

"Als der schwarze Junge an diesem Morgen den Schulhof betrat, hatte Ian sofort gespürt, dass sich etwas zu verschieben begann. Als wäre der Boden, auf dem er stand, in Bewegung geraten, unberechenbar wie ein Erdbeben. In all den Jahren an dieser Schule hatten sich feste hierarchische Strukturen gebildet, mit Anführern und Gefolgsleuten. Alles lief rund - und jetzt war plötzlich dieser Junge gekommen, ein einziger Junge, der alles aus dem Gleichgewicht brachte."

Bei Tracy Chevaliers Roman war ich von Anfang an gespannt, ob sie sich auch beim Ende an Shakespeares Theaterstück orientiert. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es zum Schluss Tote geben wird. Wir befinden uns schließlich auf einem Schulhof mit 14-Jährigen, die i. d. R. aus „normalen“ Verhältnissen kommen. Hätte sie die Geschichte irgendwo in einem sozialen Brennpunkt angesiedelt, hätte ich mit allem gerechnet. Daher war ich sehr gespannt über ihre Auflösung, werde aber an dieser Stelle nicht spoilern.

Die Autorin inszeniert ihre Version wie ein Theaterstück. Wie im Original gibt es 5 Kapitel (Akt 1 bis 5), die in einzelne Szenen unterteilt sind. Zu Beginn jeder Szene erhält man zunächst einen Überblick: wer befindet sich wo und ist womit beschäftigt. Der Schauplatz konzentriert sich dabei hauptsächlich auf das Klassenzimmer und den Schulhof. Hier interagieren die einzelnen Charaktere. Durch Wechsel in der Erzählperspektive erfährt der Leser, was die einzelnen Charaktere fühlen bzw. was sie zu ihrem Handeln antreibt. Im Unterschied zum Original lässt Tracy Chevalier einzelne Szenen wiederholen, indem sie diese aus der Sicht unterschiedlicher Perspektiven schildert. Dadurch wird das Geschehen intensiver wahrgenommen.

Wenn man Shakespeares Othello kennt, weiß man, was passieren wird. Trotzdem durchzieht diesen Roman eine ungeheure Spannung, unterschwellig meint man, ein Brodeln zu verspüren. Man kann fühlen, dass sich etwas anbahnen wird. Schaurig schön!

"Er würde sie nicht zur Rede stellen, wollte nicht ertragen müssen, dass sie ihm noch mehr Lügen auftischte, ihn behandelte, als wären sie zusammen und dann doch wieder so, als wäre er nur der Schwarze auf diesem weißen Schulhof. Das schwarze Schaf. Angeschwärzt und auf der Schwarzen Liste gelandet. Es war ein schwarzer Tag."

Mit einer Sache hatte ich meine Schwierigkeiten. Wir reden hier von 14-Jährigen pubertierenden Schülern. Bei Tracy Chevalier entwickeln diese Schüler Gedankengänge und Ideen, die manch ein Erwachsener nicht entwickeln würde. Diese Reife und Fähigkeit, Gefühle in komplexen Aussagen zu erfassen, hat mich teilweise befremdet. Insbesondere Ian, der Intrigant, formuliert seine Geisteshaltung in einer Art, die man eher von einem ausgewachsenen, hochintelligenten Psychopathen erwarten würde, aber nicht von einem 14-Jährigen. Daran muss man sich gewöhnen. Diese Gestaltung der Charaktere ist wahrscheinlich der Inszenierung geschuldet, die Tracy Chevalier in ihrem Roman vermitteln wollte.
Sicherlich gibt es noch mehr in diesem Roman zu entdecken. Ich kann mir vorstellen, dass eine Deutsch- oder Englischklasse großen Spaß an einer Gegenüberstellung von Roman und Theaterstück hätte.

Tracy Chevalier gibt dem Originalwerk einen verblüffenden neuen Anstrich und beweist, dass Shakespeare immer zeitgemäß ist und seine Aktualität nie verlieren wird. Leseempfehlung!