Rezension (5/5*) zu Der menschliche Makel von Philip Roth

Emswashed

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9. Mai 2020
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Buchinformationen und Rezensionen zu Der menschliche Makel von Philip Roth
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Von der Krähe, die keine Krähe mehr sein konnte.

Coleman Silk, Professor am Athena College in Toledo, USA, bittet im Jahr 1996 seinen Nachbarn und Schriftsteller Nathan Zuckerman darum, seine Geschichte aufzuschreiben. Er ist sehr aufgebracht und hat gerade seine Frau verloren. Coleman wurde an seiner Fakultät des Rassismus beschuldigt. Er bezeichnete zwei nie anwesende Studentinnen als "dunkle Gestalten, die das Seminarlicht scheuen", ohne zu ahnen, dass es sich ausgerechnet um afroamerikanische Studentinnen handelte. Im Laufe der Rechtfertigungen und des Aufruhrs, erlag seine Frau einem Herzinfarkt. Nun beschuldigt Coleman seinerseits das College, seine Frau umgebracht zu haben.

Nathan Zuckermann lehnt dieses Ansinnen ab, woraufhin Coleman sich zurückzieht. Seinen Job hat er hingeschmissen. Statt dessen nimmt sich der 71jährige eine 34jährige Geliebte, ausgerechnet eine analphabetische Putzfrau vom College, die aus schwierigen Verhältnissen stammt. Diese Liebschaft bliebt nicht unentdeckt und so lässt der nächste Skandal, dass ein alter, jüdischer Mann eine unterprivilegierte junge Frau sexuell ausbeutet, nicht lange auf sich warten.

Die Geschichte ist weitaus komplexer, als diese sehr vereinfachende Zusammenfassung vermuten lässt, denn hinter jeder Figur steckt ein ganz eigenes Leben mit seinen Selbsttäuschungen, Sehnsüchten und zurückgelassenem Gepäck, welches mit zuverlässiger Kraft gerade dann wieder auftaucht, wenn Mensch meint, es ohne diese Belastung geschafft zu haben. Zudem ist die Handlung in eine Zeit der Vereingten Statten verortet, die angefüllt ist mit Rassismusdebatten, dem Clinton-Lewinsky-Skandal und der Traumatabewältigung der Kriegsveteranen.

Beim Lesen fällte ich meine Urteile über Coleman, Delphine Roux (Colemans Gegenspielerin am College), Faunia (Colemans Geliebte) und vor allem Faunias Exmann (Vietnam-Veteran) ziemlich schnell, doch mit jedem Abschnitt und mit jedem Schritt in die Vergangenheit der Figuren, musste ich sie neu überdenken. Roth überraschte mich immer wieder aufs Neue und überführte mich quasi dem gleichen Vergehen, wie der Menschen in diesem Roman, nämlich vorschnell zu urteilen.

Nichts ist so, wie es scheint. Jeder ist auf der Suche nach dem Glück und versucht dabei seine Haut abzustreifen. Doch so wie die von Menschenhand aufgezogene Krähe nicht mehr von ihrem Krähenvolk verstanden wird, so darf sie nicht darauf hoffen, als Mensch behandelt zu werden.

Ein vielschichtiger, virtous komponierter Roman, mit dem Talent, den Leser in ein Gedankenlabyrinth zu ziehen.

 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Danke! Wenn Du die Geschichte noch nicht kennst, dann mach Dich auf einige Überraschungen gefasst... ich habe nämlich wirklich nicht viel verraten. (Bis auf die Krähe, die kommt wirklich vor.;))
 
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Reaktionen: GAIA und kingofmusic

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ein vielschichtiger, virtous komponierter Roman, mit dem Talent, den Leser in ein Gedankenlabyrinth zu ziehen.
Ich habe das Hörbuch genossen und komme zum selben Ergebnis wie du. Grandios komponiert, überraschend, komplex.
Deine Rezension ist Gold wert. Nix wird verraten;)
Am Ende musste ich nochmal zum Anfang gehen, um den Kontext aufzufrischen. Ein Hörbuch höre ich oft über einen längeren Zeitraum...
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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@Literaturhexle Haha! Ich wollte auch noch mal zum Anfang zurück und mich vergewissern, ob ich einen entscheidenden Hinweis übersehen hatte, doch da überrumpelte mich Roth gleich mit dem nächsten Hammer.... das hat er schon richtig genial hinbekommen, der Gute.
 
G

Gelöschtes Mitglied 7863

Gast
Ich mag eigentlich alles von Philip Roth, das war auch ein beeindruckend geschriebener Roman.

Das bringt mich auf ein anderes Thema:
Hat jemand von euch von Lisa Halliday "Asymmetry" (dt. Asymmetrie) gelesen? Wenn nicht: unbedingte Leseempfehlung. Auch hier kann man schlecht verraten, warum, außer, dass sie eine Affäre mit Philip Roth hatte, was bekannt ist.

Ich stelle das Buch mal ins virtuelle Bücherregal, ich habe nämlich dazu nichts im Forum gefunden.