Rezension (5/5*) zu Der Keim von Tarjei Vesaas

Emswashed

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9. Mai 2020
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Buchinformationen und Rezensionen zu Der Keim von Tarjei Vesaas
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Um sich aus dem Staub zu erheben, ....

...muss man zuvor darin gelegen haben.

Mit diesem Buch legt der Guggolz Verlag inzwischen schon den dritten Vesaas Roman wieder vor, der in einer liebevollen, dezenten Gestaltung gehalten, von Hinrich Schmidt-Henkel übersetzt und mit einem Nachwort von Michael Kumpfmüller versehen ist.
Tarjei Vesaas (1897- 1970) verfasste seine Geschichte 1940 unter dem Eindruck der deutschen Besatzungstruppen in Norwegen. Er selbst wusste schon früh, dass er lieber Schriftsteller werden wollte und so übernahm er nicht den väterlichen Hof in Vinje/Telemark. Fiktiv lässt er diese Lebensentscheidung dem Sohn des Obstbauern auf einer üppigen, grünen Insel widerfahren.
Rolv Li hat sich bei seinen Eltern durchgesetzt und erwirkt, dass er eine Schule auf dem Festland besuchen darf. Hat sein Vater Karl Li doch einst die Schule besucht, ja sogar sich ein Denkmal mit einer großen, überdimensionierten roten Scheune, dem die zwei Wohnhäuser nachstehen mussten, gesetzt. In den Ferien zieht es den inzwischen 20jährigen Rolv zur Ernte und seiner Freundin Else zurück. Aber mit diesem spätsommerlichen Besuch melden sich auch die Zweifel an eine feste Beziehung zu dem Mädel und die Nachfolge des Hofes.
An einem dieser geschäftigen Tage, bei der sämtliche Bewohner ihr Werk vollbringen, setzt ein Fremder mit der Fähre über. Ohne Gepäck und Auftrag, schlendert er durchs Gelände, auf der Suche nach Frieden und einem Ort der Ruhe, von den Insulanern beobachtet. Andreas Vest hat offenbar den Irrsinn im Kopf, wurde er einst bei einer Fabrikexplosion tief traumatisiert. Nun wird er unversehens Zeuge, als bei der Beschneidung von Ferkeln die Muttersäue durchdrehen und zu Tode stürzen und eine dritte Sau daraufhin beginnt, ihren frisch geworfenen Nachwuchs aufzufressen.
Doch diese Unglück ist nur der Vorbote. Kurz darauf wird Rolvs jüngere Schwester Inga tot aufgefunden. Eine Hetzjagd auf den Fremden, angeführt von Rolv, beginnt.

Vesaas Personal und Bühne sind äußerst sparsam, aber wirkungsvoll angelegt. Wie auf einem Röntgenbild bedarf es für ein paar auffälliger Punkte der Interpretation von Schuld und Ursache. Schlüsselszenen lässt Vesaas hinter eindrücklichen Stimmungsbildern und wortlosen Zusammenkünften verschwinden. Dadurch bleibt viel Raum für verschiedene Sichtweisen. Die Hetzjagd erinnerte mich persönlich an die Judenverfolgung im 3. Reich, die reuevolle Zusammenkunft der Dorfbewohner in der großen Scheune bei Dunkelheit und teilweise im Dreck der Koben, glich einem Keim im Mutterboden und das Lichtermeer im Totenzimmer war ein Versprechen, das mit dem Sonnenaufgang am nächsten Morgen eingelöst wurde.

Eine großartige Komposition aus Gesagtem und Verschwiegenem, aus Idylle und persönlichen Höllen, durchlebt von einem bunten Reigen an Persönlichkeiten, wie wir sie wohl selten finden, aber bei Vesaas garantiert sind.

von: Schlink, Bernhard
von: Alexander Häusser
von: Rin Usami
 

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