Feinfühlig und scharfsinnig erzählt Sherko Fatah eine erschütternde Vater-Tochter-Geschichte vor dem Hintergrund der Konflikte im Nahen Osten, die auch das heutige Westeuropa längst erreicht haben.
Eine Tochter verschwindet. Sie ist aufgebrochen, um sich in Syrien mit einem Glaubenskrieger zu verheiraten, den sie im Internet kennengelernt hat. Zurück bleibt ein Vater, der sich Vorwürfe macht. Hätte Murad seiner Tochter Naima nur mehr von seinem Herkunftsland erzählt, von dem er sich hier in Deutschland endlich gelöst hat. Hätte er ihren Fremdheitsgefühlen nur mehr Beachtung geschenkt. Vielleicht wäre sie dann nicht im Namen der Religion in eine Welt heimgekehrt, die ihr vollkommen unvertraut ist. Murad sieht nur eine Lösung: Er muss Naima finden. Und so nimmt er Kontakt zu Schleusern auf, reist in das Kurdengebiet an der türkisch-syrischen Grenze und stellt sich dabei auch seiner eigenen Vergangenheit. Als ihm die Schleuser ein Audiotagebuch präsentieren, das von einer Frau in Rakka aufgenommen wurde, mit großer Wahrscheinlichkeit Naima, entscheidet Murad, die gefährliche Reise in das Herrschaftsgebiet des Islamischen Staates auf sich zu nehmen …Kaufen
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Kurzmeinung: Großartig – wenn man sich einlässt und aushält, langweilig, wenn man Spannungsromane gewohnt ist.
Der etwas phlegmatische, energielose und fatalistisch eingestellte Murad bricht aus Deutschland auf und begibt sich ins Hinterland der Türkei, um seine Tochter Naima zu suchen. Im Rücken des Städtchens Mardin, rund 20 km nördlich der Grenze zu Syrien, von dort ist es nicht weit in den Irak, quartiert er sich am Rande eines Dörfchens bei dem älteren Ehepaar Abbas und Aliija ein. Seine Tochter, inzwischen etwa 20 Jahre alt, ist vor längerer Zeit von zu Hause weggelaufen, um mit einem Krieger der IS zusammenzuleben. Heißt es, ganz genau weiß es niemand. Sie soll mit einem Krieger namens Faruk zusammenleben, einem Franzosen, und ein Kind haben.
Murad betreibt von seinem Standort, seiner Zentrale aus, halbherzige Nachforschungen: er trifft sich mit „dem Boten“ im Kaffeehaus, wartet auf Informationen, für die er bezahlt hat. Er ist zum ersten Mal im Land seiner Väter oder wenigstens in der Nähe davon, sein Vater kommt aus dem Irak. Murad ist also ein typischer Vertreter der in Deutschland geborenen "Generation mit Migrationshintergrund", wie man so schön sagt. Er ist mit einer Deutschen verheiratet, mit Dorothee. Doch die Ehe scheitert. Dennoch ist man durch das gemeinsame Kind verbunden geblieben. Immer wieder ruft Dorothee an und fragt nach dem Stand der Dinge, da sie – ganz richtig – vemutet, dass Murads Reise ein Schnellschuss gewesen ist, ungeplant und unsystematisch und er, wie immer, sozusagen nichts unternimmt, sondern sich treiben lässt.
Der Kommentar:
Es ist die Gegend, staubig, hügelig, ereignislos, öde, dennoch voller unterdrückter Spannungen, die Männergesellschaft, das Teetrinken und die Gedanken des quallenartigen antriebslosen Murad, die einen allmählich einfangen. Wie Murad leidet man unter der Abwesenheit von News, von Ereignissen, von Gesellschaft, von Irgendwas und wie Murad verbohrt man sich nach und nach in genau diese Szenerie: Berge, freilaufende Hunde, Telefonate, SMS, die zu nichts führen, unbefestigte Straßen, unwillige Unterhaltungen, Wanderungen auf staubtrockenem Boden, fremdartige Begegnungen, man wird eins mit dem eintönigen Leben der Menschen an prekärem Ort, denn nicht weit entfernt tobt ein Krieg. Die IS ist nie weit. Man hat Angst und hält sich bedeckt.
Sowohl Murads Antriebslosigkeit, seine ungerechten Gedanken gegenüber seiner Exfrau, seine Gewissensbisse seiner Tochter gegenüber, die er mit dem Scheitern der Ehe fast gänzlich seiner Frau überlassen hat, korrespondieren mit der öden Umgebung. Staub. Berg. Staub. Tee. Karges Essen. Karge Gemeinschaft. Misstrauen. Abhängigkeit. Eine andere Art von Leben. Während Murad unter einer alten Aleppoeiche meditiert und an einer armseligen Quelle seine Zweitunterhose wäscht, unternimmt sein Freund Aziz aus der Ferne, das, was Dorothee von Murad erwartet. Er plant, arrangiert und kommt schließlich zu Hilfe. Jetzt gehts ratzfatz und ist auch höchste Zeit, denn Rakka, dem vermuteten Aufenthaltsort von Murads Tochter, soll gestürmt werden (ich hätte gerne gewusst, von wem).
Das Leseerlebnis orientiert sich an seiner Umgebung. Erst fad. Dann eintönig. Dann Gewöhnung an die Eintönigkeit. Verliebtsein in diesselbe. Monotonie. Askese. Träumen in der Sonne. Staub. Teetrinken. Verzweiflung. Ich bin Murad. Schließlich werden Murad und ich aufgeschreckt von Aziz. Plöder Kerl, wir hätten ewig unter der Aleppoeiche sitzen können.
Es fällt natürlich erst schwer, sich auf Monotonie, Gewissensbisse, Apathie und Teetrinken einzulassen. Dazu der Staub, der durch alle Poren dringt. Spärliche Unterhaltungen. Dennoch, die Landschaft ist großartig. Ich sehe sie vor mir und blicke mit Murad und seinem Fahrer in die Täler. Ich renne mit ihm zu der Frau, die ständig mit einer großen Tasche von A nach B wandert; was ist da drin? Ein Maschinengewehr? Ich esse Ziegenfleisch, Fladenbrot und werde allmählich asketisch. Verlangsamung. Einsamkeit. Gedanken. Dann passiert etwas. Verrat. Ein großartiges Ende.
Fazit: Ein großartiger Roman mit Sprachkraft, ohne Fehl und Tadel, auf den man sich freilich ganz und gar einlassen muss, sonst bricht er unter einem weg. Ein Roman, der mir Hochachtung abnötigt.
Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
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Verlag: Luchterhand, 2023
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