Rezension (5/5*) zu Der Gesang der Flusskrebse von Delia Owens

missalissa

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23. Juni 2022
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Liebe, Tod und Maisgries

Das Dorf Barkley Cove liegt umgeben von Marschland an der Küste von North Carolina. Der Prolog setzt im Jahr 1969 an. Zwei Jungen entdecken die Leiche des Chase Andrews im Sumpf. Chase gehörte zur lokalen High-Society und war der typische amerikanische Alpha-Mann: wohlhabend, ein guter Sportler und ein Frauenheld. Sein Tod schlägt hohe Wellen in Barkley Cove. Der Sheriff vermutet einen Mord.

Mitten im Marschland lebt Kya. Für die Bewohner von Barkley Cove gehört sie zum "Sumpfgesindel". Im ersten Kapitel springt die Erzählung zurück ins Jahr 1952. Kya ist sechs Jahre alt und schaut ihrer Mutter hinterher als diese eines Morgens mit einem Koffer das Haus verlässt ohne sich zu verabschieden. "Die kommt wieder", sagt ihr Lieblingsbruder Jodie. Aber sie kommt nicht wieder. Weil keiner den gewaltätigen Vater aushält, hauen auch Kyas Geschwister eines nach dem anderen ab. Der Schmerz des Verlassenwerdens lastet schwer auf dem kleinen Mädchen und lässt sie ihr Leben lang nicht mehr los.

Im weiteren Verlauf der Erzählung werden beide Erzählstränge, der von Kyas Heranwachsen und der vom Mordfall Chase, fortgeführt bis sie sich im Jahr 1969 mit der Verhaftung Kyas als Verdächtige vereinen. Das ganze gipfelt in einem spannenden Mordprozess. Als LeserIn schwankt man, finde ich, doch sehr zwischen beiden Möglichkeiten: Ist Kya wirklich schuldig an Chases Tod? Oder hat das Dorf bloß Vorurteile gegen sie? So ein scheues, friedfertiges Wesen wie Kya könnte doch niemals einen anderen Menschen töten? Oder doch? Es bleibt jedenfalls spannend bis zum Ende.

Dabei liegen die Sympathien der LeserInnen eindeutig auf Seiten Kyas. Das Mädchen ist eine Überlebenskünstlerin, die schon mit sechs Jahren lernen muss, mit dem gewaltätigen Vater auszukommen und sich selbst durchzuschlagen. Sie lebt in erschreckender Armut. (Es gibt fast jeden Tag Maisgries.) Eindrucksvoll wird Kyas Gefühlsleben geschildert: ihre Einsamkeit, ihre Sehnsucht nach der Mutter. Sie sehnt sich danach geliebt zu werden, hat aber auch Angst erneut verletzt zu werden. Und schließlich kommt ein Junge namens Tate ins Spiel.

"Der Gesang der Flusskrebse" ist eine Mischung aus Kriminalroman, Liebesgeschichte und Ode an die Marschlandschaft. Die Figuren in diesem Roman sind nicht unbedingt realistisch gestaltet, sondern haben, finde ich, etwas märchenhaftes. Sie sind entweder sehr gut oder sehr böse. Und Kya ist aufgrund ihres Lebensstils nicht etwa mangelernährt und hat schlechte Zähne, sondern sie ist natürlich wunderschön. Das fand ich etwas unrealistisch. Aber es ist eben eine Geschichte. Und trotz dieser "Märchenhaftigkeit" haben die Figuren viel Tiefe. Selbst der fiese Vater kriegt eine Portion Menschlichkeit. Die Auflösung des Kriminalfalls (Wer tötete Chase Andrews?) driftet ebenfalls etwas ins Unrealistische ab. Aber es bleibt wie gesagt bis zum Schluss spannend.

 
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