Rezension Rezension (5/5*) zu Das wirkliche Leben: Roman von Dieudonné, Adeline.

parden

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13. April 2014
5.835
7.675
49
Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
Gewaltspirale...

Eine Reihenhaussiedlung am Waldrand, wie es viele gibt. Im hellsten der Häuser wohnt ein zehnjähriges Mädchen mit seiner Familie. Alles normal. Wären da nicht die Leidenschaften des Vaters, der neben TV und Whisky vor allem den Rausch der Jagd liebt.

In diesem Sommer erhellt nur das Lachen ihres kleinen Bruders Gilles das Leben des Mädchens. Bis eines Abends vor ihren Augen eine Tragödie passiert. Nichts ist mehr wie zuvor. Mit der Energie und der Intelligenz einer mutigen Kämpferin setzt das Mädchen alles daran, sich und ihren Bruder vor dem väterlichen Einfluss zu retten. Von Sommer zu Sommer spürt sie immer deutlicher, dass sie selbst die Zukunft in sich trägt, wird immer selbstbewusster – ihr Körper aber auch immer weiblicher, sodass sie zusehends ins Visier ihres Vaters gerät.

Dies ist wieder einer der Romane, denen man mit einer Rezension kaum gerecht werden kann. Das beginnt schon damit, dass sich die Erzählung kaum klar einem Genre zuordnen lässt.

Ein Jugendbuch ist es nur bedingt (höchstens für ältere Jugendliche, vielleicht ab 15 Jahren). Ein Familienroman - nun ja, im weitesten Sinne schon, aber es ist schon eine besondere Familie und weit entfernt von 'Wir haben uns alle lieb'. Eine Coming-Of-Age-Geschichte - joah, auch das irgendwie, denn das Mädchen, um das sich die Handlung dreht, wird im Verlauf der Erzählung älter und entwickelt sich vom Kind zur puberierenden Jugendlichen. Ein Thriller - hm, einige Passagen, v.a. gegen Ende des Romans, muten durchaus so an. Ein Märchen - tatsächlich tauchen hier immer wieder Elemente dieser Erzählform auf. Ein Alptraum - DAS in jedem Fall...

Denn tatsächlich muss hier eine klare Triggerwarnung ausgesprochen werden. Wer mit Tierquälerei und Szenen von Gewalt und Misshandlung nicht umgehen kann, dem sei von der Lektüre abgeraten.

Oh Mann, ich vergebe hier fünf Sterne, was sagt das jetzt über mich aus?!


"Es gibt Leute, die verdüstern euch den Himmel, stehlen euer Lachen oder setzen sich mit ihrem ganzen Gewicht auf eure Schultern, um euch am Flliegen zu hindern. Von solchen Leuten haltet euch bloß fern." (S. 19)


Tatsächlich fällt es mir schwer in Worte zu fassen, was mich an dem Roman so fasziniert hat. In erster Linie ist es wohl die Art des Schreibens - der Aufbau der Erzählung, der Schreibstil, die verrückten Metaphern, die Bildhaftigkeit, der stete Wechsel von heftigen Szenen und unerwartetem Humor, die Verbindung von Animalischem und Zartem, der Sog, dem man sich beim Lesen, warum auch immer, nicht entziehen kann...

Erzählt wird das Geschehen ausschließlich aus Sicht des bis zum Ende namenlosen Mädchens, das zu Beginn gerade einmal zehn Jahre alt ist. Verstörend, wie sie ihre Familie schildert: der Vater, Großwildjähger und Trophäensammler, ein Riese mit breiten Schultern wie ein Abdecker, die Mutter eine Amöbe. Bedrohung und Chancenlosigkeit, das wird gleich zu Beginn klargestellt. Einziger Lichtblick ist der kleine Bruder Gilles mit seinem Milchzahnlachen.

Doch das Lachen vergeht Gilles auf einen Schlag, als er und seine Schwester Zeuge eines Unfalls werden. Gilles beginnt sich zu verändern, und das Mädchen sucht verzweifelt nach einer Möglichkeit, um sein Milchzahnlachen zurückzuholen. Eine Zeitmaschine soll es richten, wofür das Mädchen zunächst viel Fantasie aufwendet und später noch mehr Lerneifer. Wenn sie nur erst die physikalischen Zusammenhänge versteht, so glaubt sie, kann sie den Unfall - und alles was danach passierte - ungeschehen machen.


"Denn das Leben war nun einmal eine Ladung Fruchtpüree in einem Mixer und man musste aufpassen, in dem Strudel nicht von den Klingen nach unten gezogen und zerkleinert zu werden." (S. 74)


Gewalt zieht sich durch die gesamte Erzählung, das Gefühl der Bedrohung wächst mit jeder Seite. Der Vater ein Tyrann, der sich anfangs mit seinen Gewaltausbrüchen auf die Mutter konzentriert, doch als das Mädchen älter wird, gilt es auch ihr die Rolle als sich unterzuordnendes weil weibliches Wesen zu verdeutlichen. Und auch der Bruder sucht ein Ventil in gewalttätigem Verhalten. Jeder in der Familie ist ein Einzelkämpfer, allein das Mädchen will an seinem Verantwortungsgefühl Gilles gegenüber festhalten. Doch die Gewaltspirale droht alles in den Abgrund zu ziehen...


"Ich hingegen wusste, dass der Anblick von Blut allein ihm nicht genügen würde. Er musste es selbst zum Fließen gebracht haben. Mit seiner Faust oder mit einer 22-Millimeter-Kugel." (S. 112)


Die Charaktere kommen durch die distanzierte Erzählweise nicht wirklich nahe, und doch werden subtil Gefühle transportiert. Die Einsamkeit des Mädchens, die Verzweiflung, Angst, Panik, Wut, aber auch der Trotz und der unbedingte Wille, nicht auch zum Opfer zu werden - das alles ist nahezu greifbar. Allein die nahezu sachliche Fesstellung des Mädchens, als ihr plötzlich klar wird, dass auch sie nun zur Beute ihres Vaters geworden ist - Gänsehaut...

Gewalt und Spannung nehmen mit jeder Seite zu, und weder das Mädchen noch der Leser kann sich dem entziehen. Ein anwidernd-faszinierender Sog ließ mich zunehmend atemlos durch die Seiten jagen bis zum Ende, das... Nein, das wird natürlich nicht verraten.

Verstörend, ein Schlag in die Magengrube, ein Sog, der einen erst mit der letzten Seite entlässt - gleichzeitig distanziert und aufwühlend. Ein Romandebüt, das es in sich hat!


© Parden