Rezension (5/5*) zu Das Versprechen von Damon Galgut

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Das Versprechen von Damon Galgut
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Ein Glanzstück der Erzählkunst


Der südafrikanische Autor Damon Galgut war mir bislang unbekannt. Erst der Gewinn des Bookerpreises 2021 rückte ihn und seinen Roman „Das Versprechen“ in meinen Fokus. Diese Lektüre war dermaßen beeindruckend, dass ich mich nun auch älteren Werken Galguts zuwenden möchte.

Erzählt wird „Das Versprechen“ in vier großen Abschnitten, die jeweils mit dem Namen eines Familienmitglieds überschrieben sind. Im Mittelpunkt steht die Geschichte der wohlhabenden weißen Farmerfamilie Swart. Zwischen diesen Abschnitten liegen Zeitsprünge von jeweils rund 10 Jahren, so dass man die Familie zwar von 1986 bis 2018 begleitet, jedoch nicht alles erfährt, was sich in diesen 32 Jahren abgespielt hat.

Ein Todesfall leitet den Roman ein, als Ma Rachel Swart ihrem Krebsleiden erliegt: „Und so waren die einzigen beiden Personen, die an Rachel Swarts Bett wachten, als ihre Zeit gekommen war, ihr Ehemann alias Pa oder Manie und die kleine Schwarze, wie heißt sie noch gleich, Salome, die aber, logischerweise, nicht zählt.“ (S.36) Sie zählt deshalb nicht, weil Schwarze zu Zeiten der Apartheid in Südafrika kaum Rechte besaßen. Sie durften nicht wählen, keinen Grundbesitz haben oder nur sehr eingeschränkt Bildung erwerben. Die Unterdrückungsmaschinerie wurde staatlich begünstigt und sanktioniert. Insofern mutet Rachels letzter Wunsch, dass Salome ihr seit Jahren bewohntes kleines Haus bekommen soll, zunächst utopisch an. Pa Manie Swart verspricht jedoch seiner sterbenden Frau, dieses Vermächtnis umzusetzen. Die 13-jährige Tochter Amor hört das Gespräch der Eltern, trägt es nach außen und wird in den folgenden Jahrzehnten nicht müde, die Familie immer wieder an dieses titelgebende Versprechen zu erinnern.
Galgut berichtet über den zunehmenden Zerfall dieser dysfunktionalen Familie vor dem Hintergrund politischer Umwälzungen, mit denen sie nicht Schritt halten kann. Jedes Familienmitglied hadert mit sich selbst und dem Schicksal, der Zusammenhalt untereinander ist gering. Jeder scheint sich selbst der Nächste zu sein. Einzig die Jüngste, Amor, schert aus der Reihe aus. Sie verlässt die Familie und sagt sich von ihr los. Offensichtlich will sie Gutes tun und von ihrem eigenen Geld leben, was ihr mehr schlecht als recht gelingen wird. Amor ist das gute Gewissen der Familie, sie hat Einfühlungsvermögen, kann anderen zuhören, hat ein herzliches Verhältnis zu Salome. Mit dem steten Anmahnen des Versprechens darf man sie im übertragenen Sinn als Gewissen der weißen Bevölkerung verstehen.

Die Familiengeschichte liest sich spannend, auch wenn einem die Protagonisten relativ fremd bleiben. Ihre persönlichen Katastrophen und Entwicklungen scheinen sinnbildlich für Südafrika zu stehen. Im Erleben der einzelnen Figuren werden die sich ändernden Bedingungen in Politik und Gesellschaft gespiegelt. Latenter Rassismus, Heuchelei, Unruhen, Bigotterie, religiöser Fanatismus, Kriminalität, Gewalt, Korruption – all das scheint zum südafrikanischen Alltag zu gehören. Dabei läuft die Politik nur im Hintergrund ab, vordergründig verfolgt man das Schicksal der Swarts.

Das Besondere an diesem Roman ist der Erzählstil, der Aufmerksamkeit erfordert. Galgut hat sich für einen Bewusstseinsstrom als Stilmittel entschieden. Der Leser begleitet einen wertenden, auktorialen Erzähler, der wechselweise auch andere Perspektiven einnehmen kann, um dann ebenso tief in die Gedanken dieser Figuren einzutauchen. Dabei wird nicht nur den genannten Protagonisten Aufmerksamkeit gezollt. Auch Nebenfiguren wie Bestattern, Tieren, Krematoriumsmitarbeitern oder Bettlern wird sich intensiv zugewendet, um bestimmte Sachverhalte (auch ungewohnt drastisch) zu verdeutlichen. Manches erscheint lapidar, anderes hintergründig. Das eine wird im Nebensatz abgehandelt, das andere über Seiten - bis anschließend dessen völlige Redundanz eingeräumt wird. Desöfteren wird der Leser direkt angesprochen. Der Ton ist ebenso vielseitig wie die Perspektiven: mal mit sarkastischer Ironie, mal mit emotionaler Tiefe, mal nah und mal distanziert. Man findet schöne, allgemeingültige oder philosophische Weisheiten ebenso wie Floskeln oder absurd anmutende Schilderungen.

Ein Kaleidoskop an Fabulierfreude breitet Galgut für uns aus. Dabei wird die Geschichte niemals oberflächlich oder seicht. Stattdessen strahlt sie große Ernsthaftigkeit aus, man spürt immer, welches Anliegen der Autor mit seinem Roman transportieren will. Mit der Wahl des ersten schwarzen Präsidenten Nelson Mandela im Jahr 1994 waren noch längst nicht alle Unterschiede und Probleme zwischen Schwarz und Weiß beseitigt.

Dieses Buch ist ein schriftstellerisches Meisterwerk. Sobald man es zugeschlagen hat, möchte man sofort eine zweite Lektüre starten, um wirklich alle Bezüge herstellen zu können. Galgut erzählt nicht alles aus, sondern lässt bewusst Leerstellen, die das Nachdenken oder den Austausch anregen. Interpretationsansätze finden sich zahlreich und können im einschlägigen Feuilleton nachgelesen werden.
Wer immer auf der Suche nach einem besonderen Buch ist, das vom Üblichen abweicht, sollte hier unbedingt zugreifen. Es hat mehrere Ebenen, beeindruckende Perspektiven und einen einmalig vielseitigen Erzählstil. Es informiert über die Entwicklung Südafrikas und lädt zu vertiefenden Recherchen ein, ohne sie notwendig zu machen für das Verständnis der Handlung.

Riesige Lese-Empfehlung!


von: Kristine Bilkau
von: Volker Kutscher
von: Ferdinand von Schirach
 

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