Die Erinnerung hat ihre eigenen Gesetze. Je länger etwas zurückliegt, desto stärker tritt es einem vor Augen. So geht es dem Erzähler mit seiner Kindheit in der niederbayerischen Kleinstadt A., die abrupt endete, als sein Vater bei einem Unfall starb. Um neu beginnen zu können, muss er sich der Vergangenheit stellen, den Wundern und Schrecken, den Torheiten und der Verklärung. Das Marterl erzählt von den innersten Fragen unseres Daseins, einfühlsam, poetisch und mit feinem Humor.
Nach Jahren der Abwesenheit fährt der Erzähler zurück in den Ort seiner Kindheit in Niederbayern. In der kleinen Stadt, die ihm erscheint, als wolle sie mit Folklore, Starkbierfesten und den Denkmälern bedeutsamer Männer die Zeit anhalten, versucht er, sich an seinen Vater zu erinnern. Und an den Verkehrsunfall, bei dem der Vater vor zehn Jahren starb. Doch ein Ort hat nie nur eine Gegenwart. Zwischen die Geschichte des Erzählers drängt sich das Leben eines Jungen. Die Angst vor einem Monster in einem Berg und ein fliegender Bär. Eine Liebe zur Blasmusik und die zu einer Frau. Kann die Erinnerung helfen, mit der Endlichkeit fertigzuwerden? Kann eine Heimkehr jemals gelingen oder muss sie vielleicht ein Mythos bleiben? So wie der Meeresforscher mit Taucherbrille und Regenjacke an einem niederbayerischen Bahnhof.Kaufen
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Das Jahr 2009 markiert für Johannes den „Nullpunkt einer Zeitrechnung“ (S. 249). Der tödliche Motorradunfall seines Vaters treibt ihn weg vom Ort des Unglücks, seiner Heimatregion, den dort lebenden Menschen und allem, was ihn an seinen Verlust erinnern könnte. Zehn Jahre später kehrt er zurück in seine niederbayrische Heimatstadt, um zu verstehen, was damals geschah, was mit ihm seither geschehen ist. Zaghaft begibt er sich auf die Suche nach Verlorenem, knüpft Kontakte zu Menschen, die ihm weiterhelfen könnten.
In der Gegenwart begleiten wir Johannes durch die Stadt, das Haus und den Garten seiner Kindheit. Er lässt sich treiben, beobachtet, registriert Veränderungen, erzählt Historisches aus der Umgebung. Die atmosphärischen Beschreibungen lassen die Landschaft und die Bauwerke vor dem inneren Auge entstehen. Besonders gut gelingt es dem Autor, die Empfindungen einzufangen, die mit einer solchen Rückkehr ins Vertraute und doch teilweise fremd Gewordenem verbunden sind.
Die Episoden aus der Vergangenheit lassen sich deutlich an der Veränderung der Erzählperspektive erkennen. Es wird in der dritten Person Singular von dem Jungen erzählt, der er einmal war. Erlebnisse mit dem Vater beim Wandern, gemeinsame Spaziergänge mit dem Hund tauchen ebenso auf wie Erinnerungen an die Großeltern, Schulstreiche, die Auftritte mit der Ska-Punk-Band und vieles mehr. Wir erfahren auch die Geschichte rund um den als Tiefseetaucher verkleideten Jungen auf dem Titelbild.
Die sich abwechselnden Kindheits- und auch Erwachsenenperspektiven sind auf ihre jeweilige Art sehr authentisch. Die kindliche Perspektive hat mich oft schmunzeln, manchmal auch mitleiden lassen, immer mein Herz erwärmt. Auch den philosophischen Gedankengängen, dem Schmerz und der Verlorenheit des erwachsenen Ich-Erzählers konnte ich gut folgen.
In den Text verwoben sind englische Verse des us-amerikanischen Dichters Charles Olson, die Johannes seelischen und emotionalen Zustand gut widerspiegeln. Filmreif sind auch die Szenen diverser Bierfeste, die im niederbayrischen A. als Volksfest gefeiert werden und die der bereits nicht mehr ganz so kindliche Junge in der Vergangenheit und natürlich auch der erwachsene Johannes in der Gegenwart miterleben. Diese Abschnitte brechen für einen kurzen Moment den schwermütigen Grundton des Romans auf und liefern erstaunliche Erkenntnisse bezüglich „bayrischer Kultur“.
„Das Marterl“ ist ein gelungenes autofiktionales Debüt, das mich in seiner melancholischen, leisen, poetischen und authentischen Art sehr berührt hat.
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