Rezension (5/5*) zu Das Mädchen, das man ruft (Quartbuch) von Tanguy Viel

Naibenak

Bekanntes Mitglied
2. August 2021
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Metaphorische Gedankenströme, atmosphärisch dicht, MeToo...

Das Mädchen - Tochter des Ex-Boxers Max, der als Chauffeur des Bürgermeisters Le Bars arbeitet und demnächst sein Comeback als Boxer feiern wird, kommt zurück in die Stadt und ist auf der Suche nach einer Wohnung. Max denkt sich nichts dabei und will seiner Tochter etwas Gutes tun, als er Le Bars darum bittet, bei der Wohnungssuche behilflich zu sein. Das Mädchen Laura allerdings ist einerseits bildhübsch und andererseits hat sie bereits seit jungen Jahren als Unterwäschemodel gejobbt. Vater und Tochter könnten quasi fast vis-á-vis auf Plakatwänden zu sehen sein, jetzt, wo der Ex-Boxmeister zurückkehrt. Le Bars hilft Laura gern, aber erwartet dafür auch etwas.

Dies alles wird nie direkt ausgesprochen, aber Tanguy Viel lässt Gesten eindeutig sprechen und jedem Leser/ jeder Leserin klar werden, was hier gewünscht wird.

Dieses Spiel von Macht und Nötigung, von Mauscheleien in den Hinterzimmern, ist alt und doch hochaktuell. Die Personen wirken auf den ersten Blick übel plakativ. Jedoch erschließt sich einem beim Lesen immer mehr, dass genau DAS gewollt ist, denn es soll klar sein, mit wem wir es zu tun haben. Viel mehr will der Autor ins Eingemachte, in die Gedankenströme eintauchen und damit letztlich die Frage stellen: wo genau beginnt eigentlich sexuelle Belästigung? Dies ist zuweilen äußerst beklemmend und man ist beim Lesen zuerst hin- und hergerissen...

Sprachlich ist dieses kleine Stück Literatur ein Schatz: es lebt von gedankenstromartigen Schachtelsätzen, die einen soghaft durch die ganze Wirrnis an Empfindungen ziehen. Eingeflochten darin sind toll platzierte und zumeist großartig passende Metaphern, die für echten Lesegenuss sorgen. Kleine Hänger im Plot zum Schluss muss ich allerdings auch eingestehen, dennoch ist es meiner Meinung nach nicht so ausschlaggebend für die Geschichte und ich drücke hier beide Augen zu.

Fazit: wer Atmosphäre, Gedankenströme, Metaphern liebt und dies in Verbindung mit MeToo spannend findet, dem empfehle ich unbedingt diesen Roman! Von diesem Autor werde ich garantiert noch mehr lesen!

 

otegami

Bekanntes Mitglied
17. Dezember 2021
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*Gg* und ich werde bei diesem Cover immer an das Geländer unserer freitragenden Treppe innerhalb unserer Wohnung mit viel Möglichkeiten für meine Deko denken! ;)