Rezension (5/5*) zu Das Land der Anderen: Roman von Leïla Slimani

Barbara62

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Die Früchte des Zitrangenbaums

Beim Gastlandauftritt Frankreichs auf der Frankfurter Buchmesse 2017 war die französisch-marokkanische Autorin Leїla Slimani mit ihrem Buch "Nun schlaf auch du", für das sie 2016 den Prix Goncourt erhielt, eine bereichernde Entdeckung. Ihr dritter Roman, "Das Land der Anderen", ist der erste Band einer Trilogie nach Motiven ihrer eigenen Familiengeschichte.

Leїla Slimani wurde 1981 in Marokko geboren, dem Land, in das ihre Großmutter, genau wie die Romanfigur Mathilde, einwanderte. Mathilde folgt ihrem Mann Amine Belhaj, einem marokkanischen Offizier der französischen Armee, den sie bei Kriegsende in ihrem elsässisches Heimatdorf kennenlernte und aus Liebe, Abenteuerlust und Sehnsucht nach Veränderung überstürzt heiratete. Bei der Landung in Rabat am 1. März 1946 dominiert Beklommenheit:

"Trotz des hoffnungslos blauen Himmels, trotz der Freude, ihren Mann wiederzusehen, und des Stolzes, ihrem Schicksal entronnen zu sein, war ihr plötzlich mulmig geworden. […] Ihr Mann, dem die Blicke der anderen Passagiere nicht entgingen, küsste sie auf die Wangen. Er packte ihren rechten Arm in einer zugleich sinnlichen wie drohenden Geste. Es schien, als wolle er sie im Zaum halten." (S. 15/16)

Geplatzte Träume
Amine ist in Marokko ein anderer. Zwar liebt er Mathilde und billigt ihr eine andere Stellung als seiner Mutter Mouilala zu, einer streng-traditionellen Muslimin, doch duldet er keinerlei Kritik an heimischen Traditionen und Bräuchen:

"„So ist das hier.“
Diesen Satz würde sie noch oft hören. Und genau in dem Moment begriff sie, dass sie eine Fremde war, eine Frau, eine Ehefrau, ein Mensch, der der Gnade der anderen ausgeliefert war.“ (S. 19)

Auch als sie 1949 ein ererbtes Stück Land beziehen und Amine wie ein Besessener – und zu Beginn mit wenig Erfolg – auf seiner Farm arbeitet, bleibt das Verhältnis zwischen den beiden kulturell grundverschiedenen Partnern angespannt. Die 1947 geborene Tochter Aїcha und der jüngere Sohn Selim wachsen im Dauerstreit der Eltern auf und erleben Gewalt des Vaters gegenüber der Mutter und seiner jüngeren Schwester Selma.

Niemand fühlt sich zuhause
Nicht nur die französischen Siedler, jeder scheint in diesem Roman im fremden Land zu leben: Mathilde gehört weder zu Marokko, noch zu den Kolonialisten. Bei einem Heimatbesuch 1954 ist sie auch dort eine Fremde. Amine wird für seine Kriegsteilnahme von den eigenen Nationalisten verachtet. Besonders aber leidet Aїcha mit dem blonden Wuschelkopf unter Spott und Quälereien im französisch-katholischen Pensionat:

"Denn Aїcha war weder wirklich eine Einheimische noch eine dieser Europäerinnen […]. Sie wusste nicht, was sie war, also blieb sie allein […]." (S. 84)

Symbolhaft ist der Orangenbaum, in den Amine einst einen Zitronenzweig setzte:

"„Wir“, sagte er, „sind wie dein Baum, halb Zitrone, halb Orange. Wir gehören zu keiner Seite. […] Während er leise auf den Flur trat und die Tür schloss, dachte er, dass die Früchte des Zitrangenbaums ungenießbar waren." (S. 370/71)

Eine Welt im Untergang
Aus vielerlei Gründen habe ich den Roman überaus gern gelesen und freue mich auf die Fortsetzung. Zum einen sind es die nüchterne, wertfreie Erzählweise, das Einfühlungsvermögen Leїla Slimanis in unterschiedlichste Figuren und die immer wieder wechselnde Perspektive, mit der sie allen gerecht wird. Die Themen Fremdheit und Einsamkeit, männliche Unterdrückung, Gewalt, Emanzipation, Liebe,unerfüllte Träume, Trennendes und Verbindendes, Scham, Hilflosigkeit, Rassismus und koloniale Überheblichkeit lösten abwechselnd Mitgefühl und Wut in mir aus. Die Verbindung aus Einzelschicksalen und dem marokkanischen Unabhängigkeitskampf, der 1956 zur Loslösung von Frankreich führte, ist ausgezeichnet gelungen.

Der Roman endet 1955, als Aїcha ungerührt dem Untergang einer Welt zusieht.

 
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Kein Roman für mich. Ich mag die Autorin auch gar nicht. Vllt schreibt sie aber in diesem Buch weniger kalt. Ist es nicht etwas abgedroschen? Solche Geschichten kennt man doch zuhauf.
 

Barbara62

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Kein Roman für mich. Ich mag die Autorin auch gar nicht. Vllt schreibt sie aber in diesem Buch weniger kalt. Ist es nicht etwas abgedroschen? Solche Geschichten kennt man doch zuhauf.
Ich mag sie sehr, vielleicht gerade wegen des distanzierten Stils, den sie auch hier pflegt. Ich empfinde es so, dass sie mir kein Urteil vorgibt, sondern mir nur die Informationen liefert, die ich brauche. Und abgedroschen war es für mich nicht. Über Marokko wusste ich bisher so gut wie nichts.
 

Wandablue

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jajaja. 0815 habe ich nicht gesagt. Und letzlich ist ja von allem schon geschrieben worden. Die einzig wahren Themen der Kunst, habe ich neulich von jemandem gehört, seien sowie so nur Liebe und Tod. Alles dazwischen sei langweilig. Finde ich ja nicht...
Danke für die Rezi. Ich wollte wirklich wissen, was drinsteht und du hast es prima erklärt.
 
G

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Gast
Ich fand den Roman genial. Migranten mal andersherum, von Europa nach Nordafrika, und die Fremdheit, die beide haben, die Eingewanderte und ihr Ehemann, sind wunderbar beschrieben. Auch das Leben in einer marokkanischen Provinzstadt. Ich mochte das Buch sehr. Die Fortsetzung fällt (noch, ich habe erst knapp ein Drittel) dagegen ab.
 
G

Gelöschtes Mitglied 7863

Gast
Ich mag die Autorin auch gar nicht.
Ich schon. "Dann schlaf auch du" habe ich gelesen, "Das Land der Anderen" auch. Jetzt lese ich gerade "Schaut, wie wir tanzen" und bin nachhaltig begeistert. Das Buch wird immer besser. Fällt überhaupt nicht ab. Es geht auch nicht ausschließlich über muslimische Männer, sondern auch über starke Frauen. Ich mag Geschichten, das Buch erzählt eine Geschichte. Mit experimenteller Literatur hingegen kann ich nichts anfangen.