Rezension Rezension (5/5*) zu Das kann uns keiner nehmen: Roman von Matthias Politycki.

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28. Oktober 2019
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Baden Württemberg
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Buchinformationen und Rezensionen zu Das kann uns keiner nehmen: Roman von Matthias Politycki
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Ernsthafte Themen in einer wunderbaren Verpackung!

Eine aussergewöhnliche Afrikareise.
Tansania,
Kilimandscharo,
Daressalam,
Sansibar.

Zwei Männer, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, treffen sich zufällig und reisen dann zusammen
mit emotional schwerem Gepäck.

Der Ich-Erzähler Hans aus Hamburg erinnert sich an eine Afrikareise und erzählt rückblickend von der zufälligen Begegnung, Bekanntschaft und Freundschaft mit dem bayerischen Urgestein Tscharli.

Hans will oben auf dem Kilimandscharo in einem Krater übernachten, um nach 25 Jahren endlich seine offene Rechnung mit Afrika zu begleichen.

Als er mit seinem Bergführer Hamza am Kraterrand bei Stella Point knapp unterhalb des Gipfels steht, entdeckt er, dass sich da unten, am Boden des Kraters schon ein anderes Camp niedergelassen hat.

Wie ärgerlich!
Hans hätte die Nacht dort unten allein verbringen wollen, um seinen seelischen Ballast endlich loszuwerden.

Stattdessen ist er gezwungen, sich mit dem ca. Mitte 60jährigen zerzausten, faltigen, dünnen, blassen und fast zerbrechlich wirkenden Tscharli aus Miesbach auseinanderzusetzen, der drauflosredet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.

Als die Bergführer der beiden beschließen, die Gruppen für die Nacht und für den Abstieg zusammenzulegen, müssen sie sich wohl oder übel miteinander arrangieren.

Kann das gutgehen? Hochdeutsch und tiefstes Bayrisch krachen aufeinander.
Zwei völlig verschiedene Charaktere werden miteinander konfrontiert.

Tscharli ist unkompliziert, gesellig, ehrlich, hat Humor und ist immer gut gelaunt.
Hans ist introvertiert, zurückhaltend und ernst.

Während des unglaublich strapaziösen Aufenthalts im Krater und während des anstrengenden Abstiegs kommen sie einander näher.

Mit der Zeit werden auch andere Seiten der Männer sichtbar und man kann langsam erahnen, dass ernste Geschichten hinter dem zunächst sehr lässig und vergnüglich Erzählten stecken.

Manchmal schimmern Tiefsinnigkeit und Traurigkeit durch die fröhlich-legere Fassade des Tscharli. Aber auch eine gewisse Weisheit blitzt neben Ironie und Zynismus auf.

Hans wird stellenweise leichter ums Herz. Die Bitterkeit der Jahre fällt von ihm ab. Er fühlt sich erstmals seit langer Zeit befreit und froh.
Aber gleichzeitig fühlt er sich von Tscharli darin gestört, seinen Gedanken und Gefühlen nachzuhängen, weil dieser ihn ständig mit irgendwelchen Banalitäten ablenkt.

Im Verlauf wird immer wieder angedeutet, dass Tscharli ernsthaft krank ist und der folgende Satz von Hans lässt Schlimmes erahnen:
„...jählings begriff ich, dass er sich nur noch auf diese Weise aufrecht halten konnte. Begriff seine schrecklich volkstümliche Heiterkeit als grelle Oberfläche der Verzweiflung - und dass er die Anderen nur deshalb so zwanghaft zum Lachen bringen musste, weil er selber nichts zu lachen hatte.“ (Kindle, Pos. 594)

Schließlich ist die Bergtour zu Ende und Tscharli hat einen Wunsch:
Hans soll ihn nach Daressalam und Sansibar begleiten „weil er noch ein bisschen Spaß haben wolle, bevor‘s ernst werde.“ (Kindle, Position 646).

Der Roman ist schon deshalb interessant, weil er so viele Überraschungen bereithält.
Nicht nur inhaltlich, sondern auch was Schreibstil, Ton und Atmosphäre anbelangt.

Gerade am Anfang ist er trotz bald erkennbarer ernster Grundthematik witzig, humorvoll, unterhaltsam, leicht, flüssig und lässig geschrieben.
Im Verlauf und vor allem gegen Ende überwiegt dann die Ernsthaftigkeit.
Aber trotzdem werden auch diese Passagen mit angemessenen Prisen von Humor und Leichtigkeit gewürzt, so dass sich das Buch bis zum Ende mit Spannung und großem Vergnügen lesen lässt.

Während der Lektüre durchlebt man sämtliche Gefühle.
Muss man am Anfang noch sehr häufig schmunzeln oder auch den Kopf schütteln, so gibt es gegen Ende viele Momente der Rührung, der Hoffnung, der Resignation, des Ekels, des Erschauderns und des Erschreckens.

Neugier und Spannung wachsen im Verlauf.
Welche Erinnerungen, Erfahrungen und Gefühle befinden sich in den Rucksäcken der beiden Männer?
Zunächst bekommt der Leser nur häppchenweise Antworten auf diese Frage.

Die Geschichte wird vor der unverfälschten, exotischen und beeindruckenden Kulisse Afrikas erzählt.

Eindrücklich werden Landschaft, Wetter, Menschen und Tiere beschrieben.
Man kann sich die Berg- und Kraterlandschaft und den Regenwald mit seinen meterhohen Farnen bildlich vorstellen, sieht die Schneeflocken wirbeln, spürt Wind, Sturm, Regen, fühlt die bittere Kälte und die sengende Hitze.
Die Anstrengung der Wanderung wird regelrecht spürbar und man hat fast das Gefühl, ein Teil der Gruppe zu sein.

Die Landschaft erscheint vor dem geistigen Auge, so eindrücklich wird sie beschrieben und man meint, sich auch im Auto auf der 10-stündigen Reise in Tansania von Moshi am Südhang des Kilimandscharo nach Daressalam an der Küste des indischen Ozeans zu befinden.

Ich scheue mich fast, klar und direkt auszusprechen, dass der Roman sich mit einem sehr ernsten Thema beschäftigt:
dem Umgang mit Sterben und Tod.
Warum ich mich scheue? Weil ich befürchte, dass sich dann viele von dem Buch abwenden, ist es doch ein bedrückendes Thema, das Viele gern weg- oder aufschieben möchten.

Aber keine Sorge!
Sich auf so unterhaltsame, unkomplizierte und unbeschwerte aber niemals bagatellisierende oder beschönigende, sondern angemessene Art und Weise mit dieser Thematik auseinanderzusetzen, ist meines Erachtens eine wunderbare Möglichkeit, einmal den Blick in eine andere Richtung zu wenden und behutsam Gedanken anzustoßen, denen man sonst gerne aus dem Weg gehen möchte.

Darüber hinaus geht es noch um weitere interessante Themen:
Seine Zögerlichkeit ablegen und sich auf etwas Neues einlassen.
Herausfinden, was mit einem passiert, wenn man neue Pfade einschlägt.
Offen sein und offen bleiben anstatt sich vorschnell Urteile zu bilden.

Der Autor vermittelt implizit und unaufdringlich, dass es sich lohnt, nicht aufzugeben, sondern das Beste aus seinem Schicksal zu machen:
Egal, ob man einen geliebten Menschen verliert oder ob aufgrund von schwerer Krankheit der Tod bevor steht.

Außerdem ist die Lektüre eine Möglichkeit, einen Teil Afrikas kennenzulernen, ohne vom Sofa aufstehen zu müssen.

Absolute Empfehlung!
Unbedingt lesenswert!







 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
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Wieder mal eine ganz, ganz tolle Rezension aus deiner Feder! Wie schön du immer die verschiedenen Ebenen und Themen darstellst: das macht sofort Lust, das Buch aufzuschlagen :).