Rezension Rezension (5/5*) zu Das hungrige Krokodil: Familienroman von Sandra Brökel.

KrimiElse

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26. Januar 2019
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Historisches Kleinod

Sandra Bröckel hat mit ihrem Roman „Das hungrige Krokodil“ ein historisches Kleinod geschaffen, das sich auf berührende Weise dem Prager Frühling annähert und völlig kitschfrei auf literarischem Niveau die Lebensgeschichte von Pavel Vodák erzählt. Es ist eine wahre Geschichte, was das Buch umso beachtenswerter macht.

August 1968 rollen Panzer der damaligen Bruderländer in das sozialistische Prag, um die Reform zu zerschlagen. Das bedeutet das Ende für den Prager Frühling und damit auch für den tschechischen Arzt Pavel Vodák, der zur Gruppe der oppositionellen Reformsozialisten in Prag gehört. Auch wenn er nicht das berühmte Manifest der 2000 Worte unterzeichnete war er Teilnehmer der konspirativen Treffen und hat viele Schriftstücke verfasst.
Die Panzer zerstören alle Hoffnungen auf Veränderung und schleudern Pavel, seine Familie und die Tschechoslowakei zurück in eine finstere und misstrauische sozialistische Ära, die für den Chef der Prager Kinderpsychiatrie äußerst gefährlich wird. Aus Sorge um sich und seine Familie wagt Pavel die Flucht über Jugoslawien, mit seiner Frau Vera, seiner Tochter Pavli und seiner Schwiegermutter.

Eine Arzttasche gefüllt mit Dokumenten sind der Schatz, den die Autorin Sandra Bröckel für ihr Buch als Basis benutzt hat. Die Tasche voller Lebenserinnerungen des Prager Arztes Pavel Vodák bekam sie von ihrer Freundin Paula alias Pavli, der Tochter von Pavel. Das hungrige Krokodil als gefährliches Symbol, das man nicht füttern darf und das nur scheinbar träge schläft, stammt aus den Aufzeichnungen Pavels und wird im Roman als kraftvolles Bild verwendet.

Schon als Kind erlebt Pavel die Schrecken der Diktatur der Nazizeit. Später unmittelbar nach dem Krieg, als Student der Medizin in Prag, arbeitet er als ärztlicher Helfer in Theresienstadt, dem ehemaligen Konzentrationslager nahe Prag, wo er seine Frau Vera kennenlernt. Das Schwert kehrt sich nun um für den jungen deutschstämmigen Pavel, der noch völlig paralysiert von den Schrecken, wozu Menschen fähig sein können, in Prag erleben muss, wie Tschechen Deutsche umbringen. Als mit den Sowjets kommen muss Pavel sich vor dem Russischen Bären und seinem Uniformismus in Acht nehmen, bis unter Alexander Dubček im Frühling 1968 vorsichtige Reformen möglich zu sein scheinen. Pavel schließt sich begeistert der Gruppe Oppositioneller in Prag an und unterstützt durch seine Arbeit das „Manifest der 2000 Worte“, unter den ängstlich-besorgten Blicken seiner Frau Vera, die unter den Russen nicht weiter Medizin studieren durfte.
Nur zufällig gehört Pavel nicht zu den Unterzeichnern des Manifests, und er wird in den nachfolgenden Jahren vielfach von der nunmehr strengeren Diktatur bedroht und reglementiert. Schließlich sieht er in der Flucht die einzige Möglichkeit, der drohenden Verhaftung zu entkommen und seiner Tochter Pavli ein Studium zu ermöglichen.

Das Verlassen der Heimat als einzigen Weg, ein freies Leben ohne Angst zu führen, ist ein zeitlos aktuelles Thema. Leise und sehr eindringlich erzählt Sandra Bröckel die Geschichte Pavel Vodáks und seiner Familie, die Geschichte des Prager Frühlings und dessen Zerschlagung. Spannend und dramatisch, gut lesbar jedoch völlig ohne Kitsch und Rührseligkeit konnte ich das Buch kaum weglegen. Die Geschichte macht nachdenklich und regt zu weiterer Recherche an, Das Buch damit ist ein wertvolles Steinchen im historischen Puzzle des vergangenen Jahrhunderts, das einen sehr persönlichen und authentischen Blick auf die Entwicklung der Tschechoslowakei vom zweiten Weltkrieg bis zur Öffnung der Grenze 1989 wirft und dabei historische Geschehnisse wie die Entstalinisierung mit der Sprengung des monströsen Stalinmonuments in Prag oder die Selbstverbrennung des Studenten Jan Perlach am Ende des Prager Frühlings einbezieht. Lebensechte Charaktere geben der Geschichte großes Gewicht, die persönliche Sicht Pavel Vodáks auf die Ereignisse funktionieren für dieses Buch ebenso hervorragend wie das Bild des hungrigen Krokodils, das sich wie ein Faden als Ausdruck für schlummernde immer anwesende Gefahr durch den Roman zieht.

Ich habe das Buch sehr gerne gelesen, und von mir gibt es großen Applaus für die spannende, authentische, interessante, komplexe tatsachenbezogenen und hervorragend recherchierte Umsetzung der Thematik, die es schafft, sehr zu berühren ohne kitschig zu werden. Ich wünsche dem Buch viele Leser und vergebe begeistert volle fünf Lesesterne.

Danke an den Pendragon-Verlag für die Möglichkeit, an einer Leserunde mit der Autorin teilzunehmen, das war für mich ein äußerst erhellendes und sehr bereicherndes Erlebnis.