Rezension Rezension (5/5*) zu Das hungrige Krokodil: Familienroman von Sandra Brökel.

Literaturhexle

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2. April 2017
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Wenn die Hoffnung stirbt

1970: Der Chefarzt der Prager Kinder- und Jugendpsychiatrie Pavel Vodak verlässt nachdenklich seinen Arbeitsplatz. Offiziell will er zusammen mit seiner Familie einen Erholungsurlaub in Jugoslawien antreten, in Wahrheit hat er aber alle Vorbereitungen für eine Republikflucht getroffen und plant, nicht mehr nach Prag zurückzukehren. Was führt dazu, dass ein erfolgreicher, privilegierter Arzt einen solch folgenschweren Entschluss trifft?

Sandra Brökel lässt uns an den Lebenserinnerungen dieses Mannes teilhaben. Erzählt wird in der dritten Person, jedoch sind wir ganz nah dran am Protagonisten, dürfen seine Gedankengänge, Stimmungen und Gefühle hautnah miterleben. Die Erinnerungen setzen 1939 ein, als die Nationalsozialisten in die Tschechoslowakei einmarschieren. Pavel liebt seine Heimatstadt Prag, die Besatzer nimmt er als „Krokodil“, als Bedrohung für das friedliche Miteinander der Menschen wahr. „Das Krokodil ist groß. Es liegt still und ruhig am Ufer. Bewegungslos. Es beobachtet. Vielleicht wirkt es sogar harmlos. Vor allem, wenn die Menschen sich an seinen Anblick gewöhnt haben.“ (S. 55) Im Laufe seines Lebens wird Pavel drohende Gefahren für die Freiheit samt ihrer Schergen immer wieder mit dieser treffenden Metapher bezeichnen. Das Krokodil hat keine feste Nationalität, es kann überall lauern und plötzlich zuschnappen.

Pavels Mutter ist Deutsche, Pavel kann deshalb zunächst nicht glauben, dass aus diesem Land so viel Hass erwächst: „Die Deutschen sind gute Menschen. Das glaube ich ganz bestimmt. So eine Ungeheuerlichkeit könnten sie nie begehen.“ (S. 77) Leider wird er nach dem Krieg eines Besseren belehrt, als der junge Arzt die Überlebenden des Terrors sieht und er vielen davon nicht mehr helfen kann.

In den folgenden Jahren zieht der Kommunismus ins Land. Wieder taucht das Krokodil auf, wieder müssen sich die Menschen massiv an die Meinung der Herrschenden anpassen. Pavel ist ein aufgeschlossener, optimistischer Freigeist: „Wer den Schatten in den Fokus seines Bewusstseins rückt, sieht nur Dunkelheit. Wer aber um ihn weiß und ihn akzeptiert, der kann ihn hinter sich lassen und einen Blick nach vorne, ins Licht richten.“ (S. 114)

Pavel freut sich, als sich Anfang der 60er Jahre ein neuer politischer Aufbruch formiert. Er möchte seinem Land dienen und an einem menschlichen Sozialismus mitarbeiten, der es für Folgegenerationen lebenswert macht und mehr Demokratie zulässt. Diese Bestrebungen haben ihren Höhepunkt im Manifest der 2000 Worte, das Ende Juni 1968 in vielen Zeitungen veröffentlicht wird. Erwartungsgemäß erreichen die Worte sehr viele Menschen und begeistern sie für die Reformbewegung. Natürlich bleibt das in Russland nicht unbeobachtet: Am 21. August 1968 rollen Panzer und Truppen in die Stadt, um die friedliche Bevölkerung blutig zur Raison zu bringen. Zudem wird die legitime Regierung der Tschechoslowakei abgesetzt und verschleppt. Die Szenen, die sich dort abspielen, werden sich tief in Pavels Herz eingraben.

Die Unglaublichkeit dieses Geschehens desillusioniert den Arzt. Er verliert die Hoffnung und hat Angst, dass seine Tochter Pavli eines Tages für seine Taten zur Rechenschaft gezogen werden wird, indem man ihr zum Beispiel ein Studium verweigert. Überall wittert er nun das Krokodil. Er fühlt sich selbst in den eigenen vier Wänden beschattet. Man verbietet ihm, ins nicht-sozialistische Ausland zu reisen, droht ihm auch unverhohlen. Unter diesem Druck reift der Entschluss, das Heimatland zu verlassen…

Selten habe ich ein Buch gelesen, dass mich so intensiv an den Empfindungen des Protagonisten teilhaben lässt. Die Dramaturgie ist fantastisch ausgearbeitet, die Spannung wird kontinuierlich aufrecht erhalten – ganz ohne große Gefühligkeit, Pathos oder den Druck auf die Tränendrüse. Man spürt in jeder Zeile, dass es sich um eine wahre Geschichte handelt. Sandra Brökel hat sich offensichtlich intensiv mit der Figur des Pavel Vodak beschäftigt und die historischen Ereignisse sehr gründlich recherchiert.

Der Roman bildet ein wichtiges Stück europäischer Geschichte ab, die nicht in Vergessenheit geraten sollte. Darüber hinaus ist er ein wichtiger Beitrag dafür, dass man nie vergessen darf, wie wichtig es ist, Freiheit und Demokratie zu schützen. Sie sind keine Selbstverständlichkeit, denn überall können Krokodile lauern. Zunächst sind sie vielleicht ganz klein, bekommen sie aber zu viel Nahrung, wachsen sie schnell und werden zur Gefahr für die Allgemeinheit. Unrechtssysteme gibt es leider an vielen Orten der Welt, ausgestorben sind die Krokodile noch lange nicht!

Ebenso wird deutlich, was der Verlust der Heimat und der Aufbruch in eine unsichere Zukunft für den Einzelnen bedeuten. Flucht ist in aller Regel ein letzter Ausweg, wenn man perspektivlos ist und die Hoffnung komplett verloren hat. Es ist ein schwerer Schritt, Familie, Freunde, Besitz, Status und Heimat zurückzulassen – weiß man doch überhaupt nicht, was einen am Ziel erwartet. Auch diese Thematik ist bestechend aktuell.

Der Roman bleibt von Anfang bis Ende den historischen Fakten und der Lebensgeschichte Pavel Vodaks treu. Er lässt viel Raum zum Nachdenken und für Gespräche. Er ist zeitlos und bestens für Lesekreise oder als Schullektüre geeignet. Mich hat er begeistert. Ich bin durch die Seiten geflogen und habe viel über den Prager Frühling sowie seine Auswirkungen gelernt.
Dringende Lese-Empfehlung!


 

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