Rezension Rezension (5/5*) zu Das hungrige Krokodil: Familienroman von Sandra Brökel.

ulrikerabe

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14. August 2017
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Wien
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Krokodile bitte nicht füttern


Prag 1968. Es ist eine Zeit in der damaligen Tschechoslowakei, in der die Zeichen der Zeit auf Reform und Umbruch deuten könnten. Auch Pavel Vodák hofft auf diese Veränderungen in seinem geliebten Heimatland. Doch dann rollen russische Panzer durch Prag und machen alle Hoffnungen zunichte. Pavel macht sich Sorgen um seine Familie, befürchtet, dass sein Tochter Pavli niemals wird studieren dürfen, hat selbst Angst vor Verfolgung und Verhaftung. So fasst der den mutigen und gefährlichen Entschluss zur Flucht.

Alles fängt mit einer alten Arzttasche an. Diese ist gefüllt mit vielen Seiten auf Papier, den Lebenserinnerungen des Exiltschechen Dr. Pavel Vodák. Die Therapeutin Sandra Brökel erhielt dies Tasche von ihrer Kollegin und Freundin Paula, Pavels Tochter. Aus diesen Aufzeichnungen (und vielen Gesprächen mit Paula) entstand der Familienroman „Das hungrige Krokodil“.
Wenn die Heimat zu verlassen die einzige Möglichkeit ist, ein Leben in Freiheit ohne Diktatur zu leben, ist ein zeitloses Thema. Sandra Brökel erzählt die Geschichte Pavel Vodáks und seiner Familie mit einer behutsamen Eindringlichkeit. Die geschickte Dramaturgie des Romans und die einladend eingängige Sprache lassen einen das Buch kaum aus der Hand legen. Niemals wird die Autorin rührselig oder kitschig, streift nicht an süßlicher Betroffenheitsliteratur an. Und doch macht die Geschichte betroffen und nachdenklich.
Pavel wächst im Böhmischen Land als Sohn eines tschechischen Offiziers und einer deutschen Mutter auf. Schon als junger Mann erlebt Pavel die Schrecken einer Diktatur, als die Nazis in Tschechien einmarschieren. In seinem Kopf entsteht das Bild eines Krokodils, das hungrig nach Beute schnappt.

„Das Krokodil ist groß. Es liegt still und ruhig am Ufer. Bewegungslos. Es beobachtet. Vielleicht wirkt es sogar harmlos…….Das Krokodil gibt es seit Urzeiten. Es hat überlebt. Weil es die Beute täuscht. Das Krokodil ist nicht so träge wie es wirkt.“

Nach Krieg und Besatzung schlägt der Hass der Tschechen auf alles Deutsche zu. Pavel hat als Medizinstudent Überlebende aus Theresienstadt betreut. Noch schockiert darüber, wozu der Mensch fähig sein kann, töten nun Tschechen Deutsche. Das Krokodil ist überall zu Hause, in jeder Form von Unterdrückung, Macht und Diktatur. Wieder schnappt es zu, als nun die Sowjets die neuen Besatzer, sind und die Tschechoslowakei zum sowjetischen Bündnisstaat wird.

Mit den Reformbestrebungen unter Alexander Dubček weht vorsichtig ein neuer Wind durch das Land. Ein „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ soll es sein. Pavel engagiert sich politisch, unterstützt das Manifest der 2000 Worte, sehr zur Besorgnis seiner Frau Vera. Als Pavel, der sich als erfolgreicher Kinderarzt und Psychiater etabliert hat, die Reiseerlaubnis ins westliche Ausland entzogen wird, entschließt er sich, mit seiner gesamten Familie, mit Vera, Pavli und der Schwiegermutter, zu fliehen, sein zuhause, Prag, die Tschechoslowakei, das Land, das er seine Heimat nennt, für immer zu verlassen.

„Die, die es zugrunde richten dürfen bleiben. Die, die alle Energie in dieses Land investieren, weil sie es lieben, müssen gehen. Das Leben ist nicht fair.“

Pavel und seine Familie stehen im Vordergrund dieses Romans. Doch gleichzeitig ist es ein unglaubliches Dokument jüngerer Zeitgeschichte. Sandra Brökel verarbeitet die historischen Geschehnisse vom Einmarsch der Nationalsozialisten und deren Gräueltaten, die Verfolgung Deutscher in Tschechien nach dem Krieg, den Abbruch des riesenhaften Stalinmonuments nach der Entstalinisierung, die tragischen Ereignisse im August 1968, die das Ende des Prager Frühlings bedeuteten, die Selbstverbrennung des Studenten Jan Palach bis hin zur Öffnung der Grenzen nach Jahrzehnte dauernder Diktatur im 1989.

Pavel Vodák war bereit für ein Leben in Selbstbestimmung und Freiheit die Heimat aufzugeben und den hohen Preis der Entfremdung und Entwurzelung zu bezahlen. Das Krokodil als Zeichen für Diktatur und unmenschliche System zieht sich durch den Roman wie ein roter Faden. Auch wenn wir glauben, dass das Krokodil gerade selig schlummert, sollten wir immer daran denken, wie sehr man sich vor dem Krokodil hüten soll.




 

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