Rezension (5/5*) zu Das ewige Rauschen von Krisha Kops

Irisblatt

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15. April 2022
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Buchinformationen und Rezensionen zu Das ewige Rauschen von Krisha Kops
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Heimat finden im Dazwischen

Krisha Kops hat einen leisen, melancholischen, poetischen, magischen und philosophischen Familienroman über mehrere Generationen geschrieben. Die ursprünglichen Herkünfte der einzelnen Familienmitglieder lassen sich in Indien, Deutschland und Italien verorten. Als Erzähler fungiert ein alter indischer Banyanbaum, dessen imposante Luftwurzeln und Blätter vom Wind mal sanft, mal stürmisch bewegt werden. Es sind die Winde, die dem Baum aus allen Himmelsrichtungen Geschichten aus fernen Zeiten und Orten zutragen. Manchmal erweisen sich die Winde als unzuverlässige Erzähler, verwirbeln Informationen, ergänzen das eine oder andere Detail während andere Einzelheiten verschwinden noch bevor sie den Banyanbaum erreichen.

"Dies ist die Geschichte des Dazwischen, des Halb-Halb, des Viertel-Viertel-Viertel-Viertel, des Alles und des Nichts. Wie ich vom Abend- zum Morgen- ins Zwischenland kam. Wie ich an diesem Ort Wurzeln zu schlagen vermochte“ (S. 9). „Dies ist die Geschichte eines Jungen, bevor er wurde, wer oder was er ist.“ (S. 10).

Der Junge Abbayi vereint in sich die unterschiedlichen Kulturen und Lebenserfahrungen seiner Eltern, Großeltern und Urgroßeltern; durch ein besonderes äußeres Merkmal ist er zudem eng mit dem Banyanbaum verbunden. Seine Vorfahren stehen im Mittelpunkt der Geschichte. Abbayis indischer Großvater baut mit viel Hingabe Tomaten an, singt für sie, gibt ihnen Namen von Gottheiten. Eines seiner Kinder, Ramu, verlässt Indien, um in München zu studieren. Er lernt Marlis kennen, führt ein unstetes Leben voller Höhen und Tiefen, wird reich und verliert schließlich alles. Abbayi ist ihr gemeinsamer Sohn, der die Sonne und das Wasser liebt, der von einer großen unbekannten Sehnsucht erfüllt ist und schließlich doch noch seine Wurzeln findet. Die Geschichte von Marlis Eltern und Großeltern ist durch den ersten und zweiten Weltkrieg in Deutschland, durch Flucht und Vertreibung und durch die damit verbundenen Traumata geprägt. Krisha Kops gelingt es auf faszinierende Weise diese Einzelschicksale lebendig werden zu lassen, sie in den Kontext historischer Entwicklungen einzuordnen sowie Bezüge zu den alten indischen Schriften, Epen und dem Hinduismus herzustellen. Dadurch entsteht der Eindruck einer Flüchtigkeit individueller Existenz, einer zyklischen Wiederholung menschlicher Schicksale im Rad der Zeit. Trotz dieses universalen Blickes sind alle Protagonist:innen individuelle, unverwechselbare Persönlichkeiten mit ihrer einzigartigen Geschichte und ihren einmaligen Verbindung zu anderen Menschen. Der Banyanbaum erzählt episodenhaft und flüchtig aus einer Art Vogelperspektive. Eine tiefe emotionale Anbindung an die Figuren ist daher nicht möglich. Trotzdem geht das Erzählte in die Tiefe durch die Verbindungen, die Kops herstellt. Es sind oft wenige Sätze, die beim Lesen starke Bilder erschaffen, ganz plötzlich Räume öffnen und dadurch eine Geschichte über die Worte hinaus erzählen: „Die Arbeiter in Martas Garten tragen jedoch gelbe Sterne auf ihren Binden, Sterne, die immer herunterrutschen, manchmal gar zu Boden fallen, weil ihre Arme zu dünn sind“ (S. 47/48); oder an einer anderen Stelle - „Die Lehrer mögen ihn nicht besonders (…) Außerdem würde er Fragen stellen, die Schüler besser für sich behalten sollten, Fragen, die seine Hände mit roten Striemen überziehen“ (S. 53).

Es handelt sich um keine einfache Lektüre, da die Leser:innen die einzelnen Szenen manchmal selbst in einen Kontext setzen müssen, die Erzählstränge parallel verlaufen, vieles zwischen den Zeilen steht und auch philosophische Fragestellungen und Betrachtungsweisen einfließen. Da ich Indien ein bisschen kenne, fiel es mir leicht, Andeutungen in komplexere Bilder zu übertragen. Ich habe mich bei der Lektüre allerdings gefragt, wie es Leser:innen ergehen mag für die Indien und die indische Götterwelt Neuland bedeuten. Ein Glossar am Ende ist auf jeden Fall hilfreich; niemand sollte sich also von der Lektüre abschrecken lassen.

„Das ewige Rauschen“ lässt sich auch als Hommage an das Erzählen lesen, hebt die Bedeutung von Geschichten für die Identität hervor. Immer wieder taucht dieses Motiv im Roman auf und Kops gelangt zu der Erkenntnis, „dass es weder eine Heimat noch eine Fremde ohne Geschichten gibt“ (S. 127).

Krisha Kops Erzählweise ist einzigartig in der Art und Weise wie er harte Realitäten ungeschönt in wenigen Worten darzustellen weiß und zugleich alles Leid, aber auch die Freude von einer mythischen, magischen Kraft durchdringen lässt. Dieser Roman hat einen ganz eigenen, sehr besonderen Sound, der mich beim Lesen immer wieder innehalten ließ, mich eingefangen und verzaubert hat.

von: Sabrina Janesch
von: Auður Ava Ólafsdóttir
von: Doris Dörrie
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Wunderbare Rezension! Man kann sich alles sehr gut vorstellen. Das Wort poetisch hat mich schon im Vorfeld gereizt, magisch-mythisch dagegen abgeschreckt. Von Indien weiß ich wenig. Ergo: ich lasse die Finger davon;)
 
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Wunderbare Rezension! Man kann sich alles sehr gut vorstellen. Das Wort poetisch hat mich schon im Vorfeld gereizt, magisch-mythisch dagegen abgeschreckt. Von Indien weiß ich wenig. Ergo: ich lasse die Finger davon;)
Vielen Dank! Wie gut, dass meine Rezension hilfreich ist. Es fiel mir nämlich ungemein schwer das Gelesene in Worte zu fassen.
 
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Schon in der zweiten Generation ein Studium im Ausland: die Familie muss steinreich gewesen sein.
Die Familie war nicht reich. Ramu war wissbegierig und lernte am Goetheinstitut (Max Müller Bhavan Insitut) in Indien Deutsch - vielleicht hatte er sogar ein Stipendium (das weiß ich nicht mehr genau). Er hatte auf jeden Fall einen außerordentlichen Geschäftssinn und konnte jedem fast alles verkaufen. Ramu wurde dann aber steinreich.