Rezension (5/5*) zu Das deutsch-russische Jahrhundert von Stefan Creuzberger

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Leider konnten wir zu diesem Buch keine Daten ermitteln.
Historisch fundiert. Detailliert. Ein Nachschlagewerk.

Kurzmeinung: Alles, was du wissen willst ... und mehr.


Das deutsch-russische Jahrhundert beginnt mit freundlichen Beziehungen zwischen den beiden Kaiserreichen, deren Grundlage eine ideolgische ist (Gottesgnadentum) und auf wirtschaftlichem und kulturellem Austauch fußt. Doch rasch, im Zuge politischer Veränderungen, entstehen tiefgreifende Ressentiments. Die beiden Weltkriege hinterlassen tiefe Wunden, so tief, dass manche davon heute noch nicht bewältigt sind. Die Zukunft ist ungewiss.

Die politischen Veränderungen, der Übergang vom Zarenreich, das absolutistisch, menschenverachtend und grausam gewesen ist, zur nicht weniger grausamen und tyrannischen Herrschaft des Kommunismus ist mit deutscher Beteiligung über die Bühne gegangen. „1917 wurde das kaiserliche Deutschland zum Geburtshelfer der Oktoberrevolution.“

Ein nicht unbeträchtlicher Teil des Buches widmet sich dem Vergleich zwischen dem bolschewistischen Kommunismus Rußlands unter Lenin/Stalin „wir führen Krieg nicht gegen Einzelne. Wir vernichten die Bourgeoisie als Klasse“ (Otto Lacis, Führungskraft der sow. Geheimpolizei) und auf der anderen Seite dem nationalsozialistischen Faschismus mit seiner Vernichtungsideologie, samt aller sich daraus ergebenden politischen und militärischen Folgen. „Dem von links postulierten Gleichheitsgedanken begegnete Adolf Hitler deshalb hasserfüllt mit einer „naturgegebenen Ungleichheit der Völker“. Die Diktatoren führen einen weltanschaulichen Vernichtungskrieg. Man hat als Leser den Eindruck, dass die beiden Staaten und ihre Staatsbürger (Soldaten) sich gegenseitig in allen nur denkbaren Gräueln und Folterungen zu überbieten suchten.

Die Nachkriegszeit ist schwierig, Versöhnung scheint unmöglich. Schließlich entspannt sich die Lage, die brandtsche Ostpolitik trägt Früchte.

In West- und Ostdeutschland herrscht eine verschiedenartige Erinnerungskultur. In Ostdeutschland ist es politisch unmöglich, die millionenfachen Vergewaltigungen der Frauen und Mädchen in der SBZ (1,9 Millionen) aufzuarbeiten. In Westdeutschland „hatten sich nationalsozialistische Täter über Nacht in Luft aufgelöst“, übrig bleiben Mitläufer und bloße Sympathisanten. Viele Aspekte der nationalsozialistischen Untaten sind bis heute nicht im gesamtdeutschen Bewusstsein angekommen, geschweige denn verankert

Der Kommentar:
Creuzberger legt kein gefälliges Werk vor, sondern ein fundiertes. Das Werk liest sich bis weit über die Mitte hinaus recht sperrig, es quillt über vor Informationen, zeitweilig ist es schon Infodumping. Interessiert es wirklich, wer wann an welchem Ort unter welchen Umständen diesen oder jenen Vertrag unterzeichnet hat? Warum, fragt sich die geneigte Leserin, keine, detailausparende Zusammenfassung samt Interpretation?

Dies wäre sicherlich leichter zu konsumieren gewesen, aber das Werk spricht ja gerade den Historiker an und für den Historiker kann es nicht genau genug sein.

Einprägsam sind diejenigen Passagen, die sich mit der unterschiedlichen Erinnerungskultur beschäftigen, so war mir tatsächlich nicht bewusst, dass die „Leningrader Blockade“, das systematische Aushungern einer Metropole, auf die deutsche Armee zurückgeht, „Die Leningrader Blockade mit über einer Million Toten war lange ein Nebenaspekt deutschen Erinnerns“, schreibt Creuzberger.

Zur Information - Wikipedia sagt:

„Als Leningrader Blockade bezeichnet man die Belagerung Leningrads durch die deutsche Heeresgruppe Nord und spanische Truppen (Blaue Division) während des Zweiten Weltkriegs. Im Norden riegelten finnische Truppen die Stadt ab. Sie dauerte vom 8.September 1941 bis zum 27. Januar 1944, also etwa 28 Monate.“

Wieder Creuzberger: „„Die Leningrader Blockade mit über 1 Millionen Toten war lange (nur) ein Nebenaspekt deutschen Erinnerns“ und weiter „im kollektiven Gedächtnis der Deutschen sind die sowjetischen Opfer des nationalsozialistischen Weltanschauungsterrors noch lange nicht fest verankert.“

Dank der momentanen Weltlage dürfte dies künftig weiterhin durchaus schwierig zu bewerkstellingen sein!

Natürlich machen die (vor)genannten Aspekte nur einen Bruchteil dessen aus, was alles zwischen der Sowjetunion/Russland und Deutschand gelaufen ist und was Creuzberger beschreibt. Das muss man selber lesen.

Im Nachschlag, dem Überspann ins 21. Jahrhundert hinein, macht Creuzberger dann ausführlich das, was ich die ganze Zeit gerne gelesen hätte: er lässt an seinen Überlegungen teilhaben und interpretiert politisches Verhalten.

„Die Bewertung der deutsch-russischen Beziehungen nach 2014 war in der deutschen Öffentlichkeit gespalten, eine Situation, die bis heute andauert“ …

„Wie erklärt sich das prorussische Stimmungbild im östlichen Teil Deutschlands?“

Auch Nordstream II ist Thema.

Alles in allem ist „Das deutsch-russische Jahrhundert“ ein Mammutwerk. Zu empfehlen für den Historiker und denjenigen Leser, der die Geduld aufbringt, sich auch durch sehr viele für ihn wahrscheinlich unwesentliche Details zu quälen. Nun gut, ein bisschen Quälerei ist immer dabei.

Für das Ebook gibt es heftige Schelte! Trotz des umfassenden Anhangs, bestehend aus gefühlt Millionen von Fußnoten und einem umfangreichen Personenregister, das geradezu zum Nachschlagen verführt, kann man weder Fußnoten anspringen noch das Pesonenregister nutzen, noch – und das wiegt am schwersten – einzelne Kapitel oder Abschnitte anklicken.

Fazit: Als Nachschlagewerk nicht konzipiert, aber benutzbar ist das akribisch angelegte Sachbuch in erster Linie für den Historiker gedacht; der Laie muss sich recht anstrengen, weiß aber hinterher natürlich mehr als vorher und kann für ihn Uninteressantes, zu Detailiertes, überblättern oder einfach nur nachschlagen, was ihm sinnvoll erscheint und nur einzelne Abschnitte auf einmal konsumieren. Der Anhang ist nämlich spitzenklassse. Allerdings geht das nur im Papierbuch, beim ebook funktioniert es (bisher) nicht.

Sachbuch: Geschichte. Politik.
Verlag: Rowohlt, 2022

 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Hut ab! Ich musste mich schon während des Lesens deiner Rezension sehr konzentrieren, um alles mitzukriegen. Für so ein fettes historisches Werk fehlt mir das Interesse...
Dank deiner schönen Besprechung weiß ich aber nun, was ich versäume;)