Rezension (5/5*) zu Das Damengambit von Walter Tevis

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Das Damengambit von Walter Tevis
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In der Welt des Schachspiels

Unter dem Originaltitel „The Queen´s Gambit“ erschien der Roman bereits 1983, die deutsche Übersetzung von Gerhard Meier haben wir dem Diogenes Verlag zu verdanken. Bestimmt hat die gleichnamige, sehr erfolgreiche Netflix-Serie dazu beigetragen, dass der faszinierende Roman nicht in Vergessenheit geraten ist.

Im Mittelpunkt steht die zu Beginn 8-jährige Waise Beth Harmon, die seit dem Unfalltod ihrer Mutter im Kinderheim lebt. Dort legt man Wert auf Gehorsam und Disziplin, Menschlichkeit ist rar gesät, mit Pillen stellt man die Kinder ruhig. Beth fühlt sich vom Schachspiel des Hausmeisters magisch angezogen. Sie schleicht sich so oft wie möglich zu ihm in den Keller, wo sie sich zunächst durch bloßes Zusehen die Regeln selbst beibringt, bis der verblüffte Mr. Shaibel ihr Talent anerkennt und sie weiter fördert.

Beth flüchtet sich mit Hilfe des königlichen Spiels aus ihrem tristen Dasein. Sie ist in der Lage, unterschiedliche Partien allein in ihrer Fantasie durchzuspielen und abzuspeichern. Der Heimleiterin sind alle Freuden und Extravaganzen ein Dorn im Auge. Deshalb wird Beth alsbald das Schachspiel verboten. Im Alter von 13 Jahren hat sie das Glück, von den Eheleuten Wheatley adoptiert zu werden, ihre einzige Freundin Jolene verliert sie aus den Augen. Der neue Vater ist verschlossen und nie zu Hause, die Adoptivmutter kränklich und psychisch labil. Noch immer bekommt Beth wenig Nestwärme, kann aber fortan ihrer Schachleidenschaft frönen. Ihr enormes Talent lässt sie bei ersten Turnieren brillieren, schnell wird sie Landesmeisterin von Kentucky. Die Medien interessieren sich für das junge Schachgenie, das in eine Männerdomäne einbricht. Beth hat ehrgeizige Ziele: sie möchte US-Meisterin und später Weltmeisterin werden. Um Letzteres zu erreichen, müsste sie gegen den amtierenden russischen Weltmeister Vasily Borgov antreten. Ein weiter Weg beginnt, wir begleiten Beth über insgesamt zehn Jahre.

Der Roman beginnt mit der märchenhaften Geschichte vom armen Waisenkind, das mit Talent, Ausdauer und Fleiß allen Widrigkeiten trotzen und am Schachhimmel zu einem leuchtenden Stern aufsteigen könnte. Derlei Geschichten sind aus der Welt des Sports weithin bekannt und bergen das Risiko, ins Kitschige oder Unglaubwürdige abzudriften. Walter Tevis gelingt es jedoch, diese Klippe zu umschiffen, indem er Spannungsfelder zeigt und Nebenhandlungen einfügt, die der Protagonistin Authentizität verleihen. So wird Beth durch die Adoption nicht all ihre Probleme los. Die Unterstützung der neuen Familie währt nicht lange. Beth muss einen erneuten Verlust verwinden und sich Allianzen suchen, um ihre Erfolgschancen zu optimieren. Als Einzelgängerin fällt ihr das nicht leicht, die angelernte Flucht in Suchtmittel stellt eine latente Gefahr dar. Es wird ein Weg voller Höhen und Tiefen beschrieben, der weit über Siege oder Niederlagen im Schach hinausgeht. Der Roman beschäftigt sich mit der faszinierenden Entwicklungsgeschichte einer jungen Frau, die sich lange nur über ihre Passion definiert, sich für hässlich hält, mit Misserfolgen schlecht umgehen kann und schließlich sogar daran zu zerbrechen droht. Tevis verharrt nicht lange an den Tiefpunkten, er erzählt die Geschichte im Fluss, wechselt die Stimmungen, so dass keine Schwermut aufkommen kann. Das Damengambit ist kein trauriger Roman.

Kann man das Buch lesen, ohne Kenntnisse vom Schach zu haben? Ein klares Ja. Natürlich werden die einzelnen Spielzüge und Eröffnungen während der Turniere detailliert beschrieben. Als absoluter Laie habe ich nicht alles verstehen können. Dem Autor gelingt es trotzdem, keine Langeweile aufkommen zu lassen. Er kombiniert Fachjargon mit Atmosphäre und Spannung, beschreibt die Szenerie, lässt den Leser an taktischen Überlegungen, Gefühlen und Reaktionen seiner Figuren teilhaben, so dass man stets weiß, worum es im jeweiligen Stadium der Partie geht, ohne die konkreten Spielzüge nachvollziehen zu müssen.

Mir hat es Spaß gemacht, einiges über die Komplexität des königlichen Spiels zu erfahren. Es ist enorm akribische Vorbereitung nötig, um es im Schach zur Meisterschaft zu bringen. Wie in jeder Spitzendisziplin sind individuelle Fähigkeiten wie Talent, Vorstellungskraft, Konzentration und Nervenstärke das Eine – ohne Fleiß, Ausdauer und unermüdliche Arbeit kann sich aber kein dauerhafter Erfolg einstellen. Die Schachwelt scheint darüber hinaus männlich dominiert zu sein, weibliche Spielerinnen wie Beth haben einen schweren Stand, werden kritisch beäugt und müssen sich immer wieder beweisen. Man muss allerdings bedenken, dass der Roman schon einige Jahrzehnte alt ist.

Viele zeitlose Themen werden harmonisch und stimmig in diesen Bildungsroman eingewoben: Schattenseiten im Spitzensport, Verlust und Tod, Freundschaft, Liebe und Sexualität, Missbrauch von Kindern in Heimen, Tabletten- und Alkoholsucht, unterschiedliche Arten von Diskriminierung und einige mehr. Beth ist eine starke, vielschichtige Protagonistin. Sie ist keine reine Heldin, sie entwickelt sich und unterläuft einen sichtbaren Reifungsprozess. Auch die Nebencharaktere sind mehrdimensional angelegt. Die schachspielende Zunft scheint aus eigenwilligen Persönlichkeiten zu bestehen, die mit Nähe schlecht umgehen können und gerne als Einzelgänger auftreten. Ob das wirklich so ist?

Ein Roman, den ich wirklich gerne und in Rekordzeit gelesen habe und zu dem ich mir ergänzend demnächst bestimmt noch die Netflix-Serie anschauen werde.

Große Empfehlung!

 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
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Brandenburg
Oh ja, diese Serie ist wirklich hervorragend verfilmt. Ich habe sie zweimal angeguckt und ich guckte nicht mal den Untergang der Titanic zweimal an. Ihr müsst sie gucken, wenn ihr die Gelegenheit dazu habt.

@Literaturhexle : Ist Beth im Buch nicht als zumindest teilweise authistische Person angelegt? Mich erinnerte sie sehr an Temple Grandin, über die es auch einen ganz hervorragenden Film gibt.

Ich wusste nicht, dass dieses Buch schon einige Jahre auf dem Buckel hat.

Sehr informative Rezension, die dem Buch in jedem Punkt gerecht wird, denk ich. Sehr schön, dass es übersetzt wurde. Es ist auch ein zeitloses Buch, das man immer lesen kann.
 
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