Rezension (5/5*) zu Das Café ohne Namen von Robert Seethaler

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Buchinformationen und Rezensionen zu Das Café ohne Namen von Robert Seethaler
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Aufbaujahre in Wien.

Kurzmeinung: Robert Seethaler - der Name steht für literarische Qualität. Egal, welchen Seethaler man greift, man wird immer gut unterhalten und das auf hohem Niveau.

Kurz nach Kriegsende hilft der ungelernte junge Bursche Robert Simon auf dem Wiener Mark aus als Mädchen für alles. Er ist handwerklich geschickt und sucht eine Perspektive. Schließlich findet er ein paar kleine Räume, die schon früher einmal für eine Kneipe genutzt wurden und er legt seine sämtlichen mühevollst zusammengekratzten Spargroschen auf den Tisch für deren Anmietung, ein paar Möbel dazu und eine Schanklizenz: und voilà, das Café ohne Namen, direkt am Marktplatz, ist geboren. Als später Mila als energische Kellnerin dazukommt, läufts. Ich lese das Hörbuch - und Matthias Brandt als Sprecher mit seinem unnachahmlichen Timbre tut das Seinige, das heißt, ich bin sehr angetan.

Robert Seethaler erzählt in ruhiger, aber eindringlicher Weise vom Nachkriegsleben, von den Depressionen der Menschen, vom Weitermachen, vom Scheitern und Wiederaufstehen. Aber auch vom Liegenbleiben. Und Nichtwiederaufstehen. Und von Erinnerungen an bessere Zeiten. Ohne dass es expressis verbis gesagt wird, ist klar, der verlorene Krieg hat seine Spuren in den Seelen der Menschen hinterlassen, sie geknickt, gebrochen, verbogen. Im Café, das eigentlich keins ist, sondern eine Kneipe, treffen sich die mehr oder weniger gescheiterten Existenzen des Viertels, Die Stammkunden sind die stadtbekannten Alkoholiker. Wie Seethaler gerade diesen Menschen ein Gesicht und eine Geschichte gibt, das ist bemerkenswert. Auch andere, gebrochene Lebensläufe werden von Seethaler aufgegriffen und ins Bild gesetzt. Das macht er tiefgründig und sensibel, doch ohne etwas zu verschweigen. Arbeiter kommen ins Café, Marktbesucher, bald ist das Café eine Anlaufstelle für viele.

Die Nachkriegszeit ist eine Zeit des Aufbaus und der Chancen, jeder, der vordergründig einigermassen gesund ist oder gesund geblieben ist und mitanpacken kann, bekommt eine Arbeit. Freilich, man darf auch nicht wählerisch sein. „Das Café ohne Namen“ ist eine Erzählung über den Mann und die Frau von der Straße, eine Hommage an den Mut einfacher Leute, denen nichts anderes übrig bleibt, als auf die Zähne zu beißen und weiterzumachen. Irgendwie. Manchmal klappts und manchmal klappt es auch nicht. Unaufdringlich fließt die Atmosphäre der Zeit und der Stadt Wien ins Geschehen. Die Lektüre: ein Genuß.

Fazit: Eine oft melancholische, einfühlsame Erzählung in wunderschöner Sprache über gebrochene Existenzen, die ein Plätzchen zum Abhängen suchen und in Seethalers Markt-Café auch finden. Freilich der Wirt ist er nicht, das ist Robert Simon. Aber ist es nicht auffällig, dass beide den selben Vornamen haben? „Das Café ohne Namen“ gehört ein bisschen eben auch Seethaler.

Kategorie: Anspruchsvolle Literatur. Wien.
Hörbuch Verlag Hamburg, 2023 /sonst: Claassen

 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ich kann mir vorstellen, dass Matthias Brandt diesem Buch auch den Glanz für meinen fünften Stern verliehen hätte.
Sehr schöne Rezension! Eine solch positive Wertung hätte ich von dir hier nicht erwartet;)