Rezension Rezension (5/5*) zu Dann schlaf auch du: Roman von Leïla Slimani.

Renie

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19. Mai 2014
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Buchinformationen und Rezensionen zu Dann schlaf auch du: Roman von Leïla Slimani
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ein Thriller, der unter die Haut geht

Der Roman "Dann schlaf auch du" von Leïla Slimani beginnt mit dem entsetzlichen Ende. Es tritt das ein, was man sich als Eltern nicht vorstellen möchte, und das einem hoffentlich nie passieren wird: Die Kinder sind tot, Mila und Adam Massé, ermordet von der eigenen Nanny Louise. Wie es zu dem Verbrechen kam und was die fürsorgliche Louise, die ihr Leben für die Kinder gegeben hätte, am Ende dazu brachte, ihre Schützlinge zu töten, sind Fragen, auf die dieser Roman Antworten liefert.

"Seit sie geboren sind, hat Myriam Angst vor allem. Am schlimmsten ist die Angst, dass sie sterben könnten. Sie spricht nie darüber, weder mit ihren Freunden noch mit Paul, aber sie ist überzeugt, dass jeder von ihnen schon mal so etwas gedacht hat. Ganz sicher haben auch sie ihr Kind im Schlaf betrachtet und sich gefragt, wie es sich anfühlen würde, wenn dieser Körper dort ein Leichnam wäre, wenn diese Augen für immer geschlossen blieben." (S. 22)

Die Tragödie der Familie Massé beginnt mit der Suche nach einem Kindermädchen für Mila und Adam. Lange hat Myriam, die Mutter, überlegt, ob sie diesen Schritt wagen soll. Es ist nicht einfach, die eigenen Kinder in die Obhut einer Fremden zu geben. Man kann einem Menschen schließlich nur vor den Kopf gucken. Doch Myriams Wunsch, wieder zu arbeiten und an einer Welt fernab von Windeln, Spielplätzen und Müttergesprächen teilzuhaben, ist größer als ihre Bedenken. Sie hat sich seit Milas Geburt vor etwas mehr als 3 Jahren, ausschließlich um ihre Kinder und die Wohnung gekümmert. Doch dafür hat sie nicht studiert, um am Ende nichts aus ihrer Ausbildung zu machen. Das Jobangebot eines ehemaligen Kommilitonen erleichtert ihr die Entscheidung zwischen Familie oder Karriere.

Die Eltern Massé entscheiden sich für Louise, um die 50, ein Kindermädchen mit viel Erfahrung und den besten Referenzen. Von Beginn an übernimmt Louise das Zepter im Haushalt der Massés. Sie kümmert sich nicht nur um die Kinder sondern sie kocht, sie wäscht, sie putzt, sie kauft ein. Anfangs hat Myriam ein schlechtes Gewissen, dass sie einen Großteil ihrer Pflichten als Hausfrau und Mutter abgibt. Doch relativ schnell siegt bei ihr die Bequemlichkeit. Louise ist einfach zu perfekt, in dem was sie tut. Ihre Anwesenheit bedeutet eine enorme Entlastung für die Familie. Dank Louise genießen die Massés endlich wieder ihr Familienleben. Und Myriam kann sich voll und ganz dem Neufanfang ihrer Karriere widmen, die sie seit der Geburt der Kinder erst mal auf Eis gelegt hat.

"Sie konnte die Tragweite dessen, was sie erwartete, nicht ermessen. Mit zwei Kindern wurde alles viel komplizierter: einkaufen, die Kleinen baden, zum Arzt gehen, der ganze Haushalt. Die Rechnungen häuften sich. Myriam fühlte sich immer elender. ... , und sie hatte Lust, mitten auf der Straße wie eine Verrückte zu schreien. 'Sie fressen mich bei lebendigem Leib auf', sagte sie sich manchmal." (S. 15)

Die Kinder lieben Louise. Mila, die 3-Jährige, scheint jedoch ihren eigenen Kopf zu haben. Sie testet ihre Grenzen gegenüber Louise aus. Am Ende sitzt die Erwachsene jedoch immer am längeren Hebel.

Alles könnte perfekt sein in der Familie Massé, wenn da nicht die kleinen, feinen Spuren wären, die die Autorin Leïla Slimani auslegt. Diese Spuren hinterlassen Risse in dem perfekten Bild von Louise, und man fragt sich, was hinter dieser Fassade steckt, und wer Louise tatsächlich ist, was sie macht, wenn sie keine Kinder hütet, welche Vergangenheit sie hat, wer ihre Freunde sind etc. etc. ... Fragen, die im übrigen so gut wie nie von Louises Arbeitgebern gestellt werden. Louise ist für sie Mittel zum Zweck und Bewahrerin des familiären Wohlfühlfaktors. Jemand, der einem das Leben erleichtert, weil er sich der meisten Alltagspflichten annimmt. Der Mensch Louise ist dabei uninteressant.

Mit der Zeit nimmt das Unbehagen über Louise zu. Durch einen stetigen Wechsel in den Erzählperspektiven lernt der Leser Louise kennen, aus welchen Verhältnissen sie kommt, wie die Nachbarn sie sehen, ja sogar, welches Verhältnis die eigene Tochter zu Louise hatte und hat.

Und von Louise entsteht das Bild einer Frau, der man am besten nicht seine Kinder anvertraut hätte. Sie wird von der perfekten und liebevollen Nounou zu einer seelisch gestörten Frau, die es nicht ertragen würde, nicht mehr gebraucht zu werden.

Dieser Gedanke setzt sich bei ihr fest. Insbesondere als sie feststellt, dass die anfängliche Sympathie der Eltern in Aversion umschlägt. Louise legt merkwürdige Verhaltensweisen an den Tag, die nicht mit dem Bild der liebevollen Nanny, zu vereinbaren sind. Die Eltern ahnen, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Aber sie zögern den Moment, sich von Louise zu trennen, hinaus. Ein fataler Fehler!

"Louise wartet. Sie beobachtet die Kinder, wie man einen frisch geangelten Fisch mit blutigen Kiemen betrachtet, dessen Körper im Todeskampf zuckt. Den Fisch, der im Bootsrumpf zappelt und erschöpft nach Luft schnappt, den Fisch, der keine Chance hat, davonzukommen." (S. 47)

Leïla Slimani hat mit diesem Roman einen Psychothriller geliefert, der unter die Haut geht und dabei fast ohne Blut auskommt. Hier wird mit der Urangst von Eltern gespielt, nämlich der Angst, dass dem eigenen Kind etwas zustößen könnte. Trotzdem man durch den Romananfang weiß, was passieren wird, begleitet den Leser während der kompletten Lektüre ein gewisses Unbehagen. Man schwankt zwischen Verständnis und Unverständnis für die Eltern. Jede Frau, die in ihrem Beruf aufgegangen ist und sich entschieden hat, aufgrund der Kinder Hausfrau und Mutter zu sein, wird sich fragen, ob diese Entscheidung richtig war. Daher ist es prima, wenn die Möglichkeit besteht, Karriere und Kind miteinander zu vereinbaren. Es ist nicht ungewöhnlich, dass man sein Kind in fremde Hände zur Betreuung gibt. Dass diese fremden Hände dem Kind jedoch schaden könnten, ist nichts, woran man zu denken wagt. Und in diesem Roman denkt man permanent daran.

Fazit:
Ein sehr intensiver Thriller, der unter die Haut geht, weil er mit den Ängsten von Eltern spielt und solchen, die noch Eltern werden wollen. Hier ist Hochspannung garantiert!


© Renie


 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Sie wird von der perfekten und liebevollen Nounou zu einer seelisch gestörten Frau, die es nicht ertragen würde, nicht mehr gebraucht zu werden.
Gerade habe ich diesen Roman ausgelesen. Ich kann mich deiner Rezension uneingeschränkt anschließen: wie sich ganz langsam das Böse einschleicht, wie sowohl wir als Leser als auch die Eltern spüren, "das etwas nicht stimmt" mit diesem Kindermädchen...-
Das empfinde ich als ganz brillant gemacht, anders als in anderen vergleichbaren Büchern dieser Art.
Die Autorin hat aus meiner Sicht ein hohes sprachliches Niveau, sie arbeitet von Zeit zu Zeit mit Metaphern, die unter die Haut gehen. Dabei ist der Stil in keiner Weise gestelzt oder schwer.
Nicht umsonst hat dieses Buch den Prix Concourt 2016 gewonnen.
Ich schließe mich @Renie an und empfehle: Unbedingt lesen ;)
 
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Reaktionen: Xirxe und Renie

Literaturhexle

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2. April 2017
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wenig Thriller-haft
Das kommt wahrscheinlich auf die Augen des Betrachters an. "Das Blutige " wurde an den Anfang gestellt, die Kinder sind bereits tot. Was folgt, ist der Weg zur Tat und das Psychogramm der Täterin. Wer "richtige" Thriller will, mag hier etwas enttäuscht sein...

Interessant fand ich noch die Tatsache, dass offensichtlich in Paris jede Familìe eine Nanny hat, was hierzulande wohl eher die Ausnahme ist.
Auch habe ich Schwierigkeiten mit Myriam als Mutter: erst will sie unbedingt schwanger werden, um "geerdet" zu sein. Dann schiebt sie die Kinder beiseite und geht bis nachts in ihrem Beruf auf...
Vielleicht aber auch das Dilemma der jetzigen jungen Eltern-Generation?
Natürlich war die Dominanz der Nanny nur dadurch möglich. Sonst hätten die Eltern bestimmt schon vorher was gemerkt.