Rezension Rezension (5/5*) zu Da sind wir: Roman von Graham Swift.

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Hilter am Teutoburger Wald
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Der wahre Zauber liegt im Detail

Ende der Fünfzigerjahre:

Im Seebad Brighton hat Jack Robbins bereits als Entertainer “Flinker Jack” Fuß gefasst und holt Ronnie Dean, einen Freund aus seiner Militärzeit, als Zauberkünstler “Pablo” an Bord. Doch dessen Nummer fehlt noch der letzte Kick, nur ein bisschen Glanz, Glamour und Verführungskraft, und so wird die attraktive Evie White als Ronnies Assistentin künftig zersägt und zum Schweben oder Verschwinden gebracht.

Evie ist bald nicht mehr nur Ronnies Assistentin, sondern auch seine Verlobte – aber es knistert zwischen ihr und Jack. Wer jetzt (verständlicherweise) entnervt aufstöhnt “Oh nein, nicht schon wieder so eine Dreiecksgeschichte!”, dem sei gesagt: der Roman hat weit mehr zu bieten als das.

Der Schreibstil transportiert sehr viel Bedeutung in durchdachten, ausdrucksstarken Formulierungen und Bildern. Er verleiht dieser Geschichte in sachtem Rhythmus eine ganz eigene Magie – eindringlich und als Kontrapunkt überaus passend für einen Roman, der in weiten Teilen in einer Welt der Illusion und des Showbusiness angesiedelt ist.

Graham Swift lässt den Leser einen Blick in die Ära der Fünfziger werfen, zugleich verklärt durch Glimmer und Rauch der Bühnenwelt und glasklar zu erkennen.

Er gibt die schillernde Atmosphäre einer Aufführung vor atemlosem Publikum genauso mühelos wieder wie den schnöden Alltag der Schausteller abseits der Bühne. Er schüttelt Details aus dem Ärmel wie Spielkarten und spielt mit Zeitebenen: da sind wir, da waren wir, da werden wir sein. Mal sind wir mitten im Krieg, mal im Nachkriegsboom, dann wieder schauen wir mit der 75-jährigen Evie zurück auf die magischen Jahre – der Autor packt ein halbes Jahrhundert in nur 160 Seiten.

Swift ist der Magier, von dem man sich gerne bezaubern und blenden lässt – nicht, ohne sich zu fragen, wie der Trick funktioniert.

Die Handlung ist geschickt konstruiert. Versteckte Hinweise und Andeutungen erhalten im Rückblick ein ganz neues Gewicht. Fast meint man, das ganze Buch sei aufgebaut wie ein aufwendig konzipierter Zaubertrick – bis hin zu einem Schluss, der dem Magier nicht in die Karten schaut.

Das Ende wird sicher die Gemüter spalten, da vieles offen bleibt. Bei aller Illusion, bei allen Tricks und Trügereien , ist die Geschichte jedoch keineswegs Schall und Rauch. Es lohnt sich mit Sicherheit, den Roman ein zweites Mal mit Hintergrundwissen zu lesen.

Graham Swift gelingt eine sehr feinfühlige, dezente Charakterführung.

“Wo ist Pablo? Da bin ich!”

So wie der Papagei Pablo, den der kleine Ronnie von seinem stets abwesenden Vater geschenkt bekam und der ihm von seiner Mutter prompt entwendet wurde, bekräftigen auch die Charaktere immer wieder ihre eigene Existenz und Bedeutung – und wirken dabei ungemein verloren. Swift lässt hier und dort Variationen von “Da bin ich!” in den Text einfließen und etabliert damit ein Leitmotiv des Romans.

Dass Ronnie viele Jahre später den Namen seines Papageis (eine Variation seines zweiten Vornamens) als Künstlernamen erwählt, rückt die Thematik der Selbstfindung und Selbstbehauptung in den Mittelpunkt. Es geht meines Erachtens darum, wie die Protagonisten sich in verschiedenen, teils widrigen Lebensumständen durchsetzen – oder daran scheitern! – und um Anerkennung ihrer ganz persönlichen Identität ringen.

Es sind unterschiedliche Lebensläufe, die sich überschneiden: Ronnie zum Beispiel findet als Kind in der Landverschickung unerwartet sowohl eine liebende Pflegefamilie als auch seine Berufung als Bühnenmagier. Der Krieg und die Trennung von seiner Mutter hätten für einen kleinen Jungen traumatisch sein müssen, werden für Ronnie jedoch zum Segen auf Zeit. Insgeheim wünscht er sich, der Krieg möge noch lange weitergehen – nach Kriegsende bleibt er indes, doppelt entwurzelt, stets auf der Suche nach sich selbst.

Evie hingegen wurde von ihrer eigenen Mutter schon von klein auf für ein Leben im Rampenlicht gedrillt: lächeln, winken, lächeln, mit dem Po wackeln, Zähne zusammenbeißen, lächeln. Ihre Bedeutung wurde konsequent auf ihr Äußerliches reduziert und sie blüht erst als Gehilfin des Zaubermeisters auf.

Als dunkles Echo der Selbstbestätigung geht es immer wieder um Verschwinden und Verlust. Beides geschieht während der Show und im echten Leben – wobei ohnehin längst nicht mehr klar ist, wo die Grenzen verlaufen. Wie hält man fest am eigenen Selbst, wenn der Lebensunterhalt darin besteht, ein glamouröseres, geheimnisvolleres Ich auf die Bühne zu bringen?

Krieg und dysfunktionale Familien spielen besonders im dem Teil der Geschichte eine große Rolle, in dem Ronnie und die Landverschickung im Mittelpunkt stehen, schwingen jedoch als leise wummernder Unterton auch im Rest des Buches mit.

Der Autor verpackt die grundlegenden Thematiken in eine originelle Geschichte, die den Leser gefangen nimmt, ohne dass strenggenommen allzu viel passiert. Hier geht es in meinen Augen weit mehr um Persönlichkeit und Innenleben als um tatsächliche Handlungen und Geschehnisse.

Fazit:

In den Fünfzigern sind die Freunde Jack und Ronnie erfolgreich als Teil der gleichen Bühnenshow für ein privilegiertes Publikum – Jack als Entertainer, Ronnie als Zauberkünstler. Als Ronnie die bildhübsche Evie als Assistentin in seine Nummer einbaut, kommt es zu unterschwelligen Spannungen und notdürftig verdrängten Konflikten. Und zu einem Zaubertrick, der vielleicht eine Illusion ist, vielleicht aber auch ein Verbrechen…

Doch diese Dreierkonstellation ist weder schmalziges Rührstück noch gewagte Erotik, sondern eher die Kulisse für eine tiefgründige Geschichte rund um die Themen Selbstfindung, Selbstbehauptung, Selbstverlust.