Rezension Rezension (5/5*) zu Da sind wir: Roman von Graham Swift.

Renie

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19. Mai 2014
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literarisch und magisch

Meine Buchbesprechung zu Graham Swifts Buch "Da sind wir" möchte ich mit meinem einzigen Kritikpunkt beginnen, so dass ich im Anschluss ausreichend Platz habe, mir meine Begeisterung über diesen Roman von der Seele schreibe:
Die deutsche Übersetzung "Da sind wir" wird dem englischen Titel "Here we are" nur ansatzweise gerecht. Dieses "Here we are" ist eine englische Redewendung, die in England in unzähligen Varianten verwendet wird und auch unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Hier sind ein paar Beispiele:
- "Bitteschön" (wenn man bspw. etwas präsentiert) - man stelle sich dazu einen Tusch vor
- ein sattes "So!" (der Schwabe sagt auch "Sodele")
- "Da wären wir " (das kommt dem deutschen Titel noch am nächsten)
Ich hadere daher mit dem deutschenTitel, der in der 1:1 Übersetzung und im Vergleich zur englischen Redewendung sehr sperrig wirkt und die Bedeutungsvielfalt des Originals nicht wiedergibt.

Dennoch bin ich von diesem Roman begeistert und hier schildere ich, warum.

Der Roman entführt uns in das englische Seebad Brighton, das eh und je ein beliebter Urlaubsort für die Engländer war. Bis 1975 prägte eine Seebrücke mit dem malerischen Namen Brighton Palace Pier das Bild dieser Stadt. Sie beherbergte bis zu diesem Zeitpunkt einen Vergnügungspark mit einem Pavillon, in dem Veranstaltungen wie Shows oder Konzerte durchgeführt wurden. Und ebendieser Pavillon ist zunächst Schauplatz des Romans "Da sind wir", der in den 50er Jahren einsetzt. Hier lernen wir die 3 Protagonisten kennen:
Jack Robbins, Entertainer und Conferencier einer Abendshow
Ronnie Dean, Zauberer in der Show
und Evie White, Assistentin und Verlobte von Ronnie

Jack und Ronnie sind beste Freunde seit dem Krieg. Jack hat ihnen das Engagement in Brighton besorgt, wo Evie erst dazustößt. Und kaum ist eine Frau im Spiel, wird die Männerfreundschaft auf eine harte Probe gestellt. Eines Tages verschwindet Ronnie während eines Auftritts und ward nie wieder gesehen.
Um diesen kleinen, aber malerischen Plot spinnt Graham Swift nun ein Netz aus Spekulationen, was mit Ronnie passiert ist, und wie es zu dem unerklärlichen Ereignis kommen konnte. Dabei springt Swift munter und unbeeindruckt von jeglicher Chronologie zwischen den Perspektiven und persönlichen Lebensgeschichten der Protagonisten hin und her. Dieses Erzählgebahren erscheint zunächst sehr verwirrend. Doch schnell ist man verzaubert von der Lebhaftigkeit, die Swifts Erzählstil ausstrahlt.

Die Geschichte der Dreier-Konstellation um Jack, Ronnie und Evie ist gut gemacht und psychologisch ausgefeilt. Aber dennoch habe ich die Beziehung der drei Personen nicht als etwas Besonderes empfunden: 2 Männer, die eng befreundet sind und eine Frau, die sich erst für den einen, dann den anderen entscheidet und Schluss ist's mit der Freundschaft. Aus diesem Stoff sind schon viele Romane entstanden.
Was diesen Roman jedoch zu einer Glanzleistung macht, ist die Art und Weise, wie diese Dreiecksgeschichte erzählt wird.
Ich gebe zu, ich brauchte eine Weile, bis ich Graham Swift auf die Schliche gekommen bin. Aber dann habe ich gestaunt, wie ein kleines Kind. Denn ich bin davon überzeugt, dass Swift seinen Roman wie eine literarische Zaubershow angelegt hat.
Hier nenne ich ein paar Indizien für meine Idee:
- der englische Titel dieses Romans, der mich an ein "Vorhang auf: der Künstler betritt die Bühne" erinnert
- die extremen Sprünge in Perspektive und Zeitebene, die mich an schnell aufeinanderfolgende Kunststücke erinnern, die einem Zuschauer kaum Zeit zum Luftholen lassen
- obwohl man viele Zaubertricks kennt und weiß, wie sie ausgehen (Kartentricks, Tauben aus dem Zylinder, zersägte Jungfrau), ist man fasziniert und gespannt. Bei der Handlung dieses Romans ist es ähnlich. Gleich zu Anfang ist klar, dass Ronnie in der Dreieckskonstellation auf der Strecke bleiben wird. Nur das wie, ist nicht bekannt (s. "die zersägte Jungfrau": man weiß, dass die Jungfrau am Ende zersägt sein wird, aber wie der Zauberer es gemacht hat, wissen nur die Wenigsten)
- In diesem Roman spielen Farben eine Rolle, maßgeblich Schwarz, Weiß und Rot - Farben, die auch in einer klassischen Zaubershow zu finden sind (Frack und Zylinder, schwarz-weißer Zauberstab). Und es ist kein Zufall, dass Evie eine geborene "White" ist, Ronnies Augen schwarz sind, was mehrfach betont wird, usw. usw. usw.
Mit diesen Beispielen kratze ich nur an der Oberfläche. Denn ich bin sicher, dass es noch viele ähnliche Hinweise gibt, die ich überlesen habe, so dass ich die feste Absicht habe, dieses Buch ein weiteres Mal zu lesen.

Letztendlich kann ich mir aber nicht sicher sein, was meine Theorie betrifft. Vielleicht überinterpretiere ich auch. Ich möchte aber gern glauben, dass Swift seinen Roman als literarische Zaubershow angelegt hat. Denn das hat für mich die eigentliche Faszination dieses Romans ausgemacht. Und schließlich ist Graham Swift Booker Prize Gewinner. Der müsste doch so etwas können. ;-)

© Renie