Rezension (5/5*) zu Charlotte Löwensköld von Selma Lagerlöf

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Charlotte Löwensköld von Selma Lagerlöf
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Ein zeitloses Kleinod

Die Schriftstellerin Selma Lagerlöf war mir bislang nur durch die Trickfilmserie über den kleinen Nils Holgersson und seine fantastische Reise mit den Wildgänsen bekannt. Bereits im Jahr 1909 wurde die Autorin als erste Frau mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet und gilt als eine der berühmtesten Schriftstellerinnen Schwedens. Der vorliegende Roman erschien 1925.

Bei „Charlotte Löwensköld“ handelt es sich um den mittleren Teil einer Trilogie, der jedoch völlig für sich alleine gelesen werden kann. Das gilt auch für die einzelnen Kapitel, deren jedes fast wie eine Erzählung angelegt ist, sich aber ins große Ganze bestens eingliedert. So lernen wir im ersten Kapitel nicht etwa die intelligent-gewitzte Titelheldin Charlotte Löwensköld kennen, sondern die wohlhabende Oberstin Ekenstedt, eine Frau, der aufgrund ihrer Schönheit und ihres Scharfsinns ihr gesellschaftliches Umfeld zu Füßen liegt. Zudem hat sie ihren einzigen Sohn Karl-Artur stets heillos vergöttert und verwöhnt. Mit diesem Sohn, einem Hilfspfarrer in der kleinen Probstei von Korskykra, ist Charlotte, eine mittellose Verwandte der Oberstin, seit nunmehr fünf Jahren verlobt. Karl-Artur verschreibt sich leider immer mehr einer asketischen, pietistischen Religiosität, was seiner beruflichen Weiterentwicklung (die Voraussetzung für eine Eheschließung wäre) entgegensteht.

Charlotte verlor ihre Eltern früh und wurde vom Probst-Ehepaar von Korskyrka als Ziehtochter liebevoll aufgenommen, so dass sich die beiden Verlobten dort täglich sehen können. Allerdings nimmt Charlottes Verdruss über Karl-Arturs mangelnden Ehrgeiz zu. Als sie die prächtige Kutsche des Fabrikanten Schagerström vorbeifahren sieht, sagt sie halb im Scherz den schicksalhaften Satz: „Das sage ich dir, Karl-Artur, ich habe dich wirklich gern, aber wenn Schagerström um meine Hand anhält, dann nehme ich ihn.“ (S. 48) Dieser Ausspruch wird dem verwitweten Unternehmer wieder zugetragen, der sich in Folge tatsächlich auf Freiersfüße begibt und in der Probstei mit einem Heiratsantrag vorspricht.

Daraus entwickelt sich eine herrlich leichtfüßig und warmherzig erzählte Tragikomödie im Stil einer Jane Austen. In Karl-Artur wird eine besitzergreifende Eifersucht entfesselt, die ihn Charlotte mit Vorwürfen überziehen lässt. Andere Figuren mischen sich in das Zerwürfnis ein, jede hat dabei auch eigene Interessen. Charlotte bleibt bei alldem die Ehrenhaftigkeit in Person und tut alles, um den Verlobten zu schützen. Es dauert, bis sich der Roman auf ein Ende zubewegt. Bis zusammen kommt, was zusammen gehört, gilt es einiges an Irrungen und Wirrungen mitzuerleben. Als Leser möchte man manches Mal eingreifen und die Titelheldin wachrütteln.

Die Figuren sind mehrschichtig und facettenreich angelegt, jedoch für heutige Verhältnisse sicher nicht völlig klischeefrei. Man erfährt jedoch in Rückblicken einiges über die wichtigsten Lebensstationen der Protagonisten, so dass ihre Handlungsweisen schlüssiger werden. Trotzdem erscheint manche Wende etwas märchenhaft, manches Verhalten auch dramaturgisch übertrieben. Ich verzeihe das aber gern, weil es dem Spannungsreichtum der Handlung dient. Man darf eben nicht alles allzu ernst nehmen, manches wird mit einem Augenzwinkern erzählt. Humor ist ausdrücklich erwünscht.

Auch die Nebenfiguren haben mir Freude bereitet. Der Roman glänzt mit seinen weiblichen Charakteren, die zwar im Korsett ihrer Zeit festhängen, jedoch das Beste daraus zu machen versuchen. Männer haben hier meist die Nebenrollen inne oder lassen sich von Frauen steuern. Selma Lagerlöf schreibt mit leichter, spitzer Feder. Der Text wirkt überhaupt nicht altbacken oder verstaubt. Mich hat der Roman, der sich dank der wunderbaren Übersetzung von Paul Berf absolut flüssig und zeitgemäß lesen lässt, ausgezeichnet unterhalten. Jedes Kapitel fängt den Leser ein, fesselt und versetzt ihn in das Gesellschaftskolorit einer vergangenen Epoche. Dabei werden soziale Missstände, die Benachteiligung von Frauen, Bigotterie und manches andere an den Pranger gestellt – allerdings wie nebenbei und ohne mahnenden Zeigefinger. Das ist Unterhaltung bester Art!

Das feministisch geprägte Nachwort von Mareike Fallwickl bietet Einblicke in Leben und Werk der beeindruckenden Autorin. Hervorzuheben sind auch die ausführlichen informativen Anmerkungen zum Text.
Die handliche Manesse Ausgabe ist ein wahres Schmuckstück. Schön, dass Bücher noch so liebevoll und hochwertig gestaltet werden. Ich hoffe auf eine Fortsetzung der Löwensköld-Trilogie und bleibe ein Fan der Manesse Weltbibliothek.

Große Leseempfehlung!