Rezension (5/5*) zu Charlotte Löwensköld von Selma Lagerlöf

alasca

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13. Juni 2022
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Buchinformationen und Rezensionen zu Charlotte Löwensköld von Selma Lagerlöf
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Taufrischer Klassiker mit wunderbaren Charakteren

„Charlotte Löwensköld“ ist der zweite Teil einer Trilogie mit dem Namen „Die Löwenskölds“, deren Teile sich ohne Weiteres unabhängig voneinander lesen lassen. Die Trilogie gilt als Lagerlöfs Alterswerk, in der ihre Kunst kulminiert.

Mit feiner Ironie stellt Lagerlöf uns in ihrem Roman die Figuren vor: die Oberstin, eine kluge Frau, außer, wenn es um ihren Sohn Karl Artur geht. Karl Artur, Hilfspfarrer, ein frömmelnder Egoist und der Verlobte von Charlotte Löwensköld. Charlotte, eine zielstrebige, kluge junge Frau, und schließlich Schagerström, ein reicher Fabrikdirektor, der Charlotte trotz der ihm bekannten Verlobung einen Heiratsantrag macht, den sie empört ablehnt – was sie in seinen Augen umso ehrenwerter und attraktiver macht. Dennoch verfällt ihr Verlobter unter dem Einfluss der heimlich in ihn verliebten Organistin der Idee, sie sei materialistisch und gierig, was sie in seinen Augen ungeeignet macht, sein Ideal der Armut mit ihm zu leben. Er löst die Verlobung.

Lagerlöf zeichnet ihre Figuren so virtuos, dass man nicht umhin kommt, Partei zu nehmen - sich krümmt beim Fremdschämen, hofft und bangt und es manchmal kaum aushält zu erfahren, wie es weitergeht. Ihre Heldin Charlotte ist eine sehr moderne Figur, die sich „auf ihren Verstand, ihre Kraft und ihren Einfallsreichtum verlassen“ will; auf der anderen Seite wird sie hoffnungslos behindert durch die Verhältnisse, die ihr nur wenig Spielraum lassen. Sie muss heiraten, um versorgt zu sein, darf sich aber nicht anmerken lassen, dass hierbei auch materielle Aspekte eine Rolle spielen. Tut sie das, gilt sie als berechnend – und ist ihr Ruf dahin, kann sie ihn aus eigener Kraft nicht mehr retten. Beträchtliche Spannung entsteht aus der Frage, ob und wie ihr das am Ende gelingen wird.

Spätestens ab dem dritten Kapitel wird klar, dass man Charlotte nicht wünscht, ihren Verlobten wiederzugewinnen. Stattdessen ist offensichtlich, dass der reiche Mann der charakterlich bessere Mensch ist und viel besser zu ihr passt. Entsprechend ahnt man von Anfang an, wohin die Reise erzählerisch geht. Allerdings scheint jede der eintretenden Wirrungen alles wieder auf´s Spiel zu setzen, so dass es sehr kurzweilig ist, mitzufiebern. Auch das anfangs langsame Erzähltempo zieht im Lauf der Geschichte deutlich an und lässt keine Langeweile aufkommen.

Für moderne Leserinnen ist vielleicht die selbstlose Opfermütigkeit Charlottes, die den Ruf und das Wohlergehen ihres Verlobten über das eigene stellt, schwer zu ertragen. In der Figur dieses von Charlotte geliebten Verlobten mit seiner Schere zwischen religiösem Bekenntnis und verblendetem Egoismus hat Lagerlöf feinste Kirchensatire geschrieben, die einen verblüffend aktuellen Bezug hat: Lagerlöf zeigt überzeugend, wie einfach es ist, eigentlich entlarvende Fakten und Argumente störungsfrei in ein einmal gewähltes Glaubenssystem einzuordnen. Wunderbare Parallele zum Trump-Universum.

Auch stilistisch und sprachlich macht der Roman Spaß. Die auktoriale Erzählstimme hat einen ganz eigenen Ton, der klingt, als würde einem ganz persönlich diese besondere Geschichte anvertraut. Mir gefiel die spitze Feder, mit der Lagerlöf mit feiner Boshaftigkeit die Schwächen der Menschen aufspießt. Warnen muss ich vor dem kleinen Format und der sehr kleinen Schrift des ansonsten sehr liebevoll ausgestatteten Bandes. Letztere fand ich sehr anstrengend zu lesen.

Insgesamt liest „Charlotte Löwensköld“ sich als schöner Schmöker mit Anspruch – mit vielen interessanten gesellschaftlichen Facetten und wunderbaren Charakteren, durch die die große Menschenkenntnis von Lagerlöf fühlbar wird.

Ein Klassiker, der sich taufrisch gehalten hat und die Lektüre unbedingt lohnt.


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