Rezension Rezension (5/5*) zu Boy in the Park von A. J. Grayson

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Hilter am Teutoburger Wald
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Buchinformationen und Rezensionen zu Boy in the Park von A. J. Grayson
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Der kleine Junge im Park verharrt verloren

Ich bin verwirrt.

Im Rückblick finde ich den Klappentext mehr als ein bisschen irreführend. Manches stimmt schlicht und einfach nicht ganz (so tappt die Polizei zum Beispiel nicht im Dunkeln, sondern glaubt aus verständlichen Gründen gar nicht erst an ein Verbrechen), aber vor allem lässt der Text das Buch klingen wie einen typischen Psychothriller. Und in meinen Augen ist es kein typischer Psychothriller, weil es gar kein Psychothriller ist.

Womit ich allerdings nicht sagen möchte, dass es nicht spannend wäre, oder schlecht geschrieben, oder aus anderen Gründen nicht gut. Und wenn ich ehrlich bin, wüsste ich auch nicht, wie ich einen besseren Klappentext hätte schreiben sollen. Tatsächlich ist das Buch so ungewöhnlich und so schwierig in ein Genre einzuordnen, dass ich gar nicht recht weiß, wie ich es rezensieren soll, ohne schon zu viel zu verraten und damit die Wirkung zu schmälern.

Oh, Dilemma.

Der Verlag sagt auf seiner Webseite über dieses Buch: »Ein komplexer psychologischer Spannungs-Roman um Alptraum und Realität, dunkelste Erinnerungen und menschliche Abgründe.«

Und genau darauf muss man sich einlassen. Der Autor spielt mit den Erwartungen des Lesers - man kann sich nie darauf verlassen, dass die Dinge so sind, wie sie erscheinen, und man muss schnell feststellen, dass man auch Dylan nicht blind vertrauen kann. Denn der verliert selber immer mehr den Halt, weiß nicht mehr, was wahr ist und was Einbildung, was Gegenwart und was Erinnerung. Seine Erzählung wird außerdem immer wieder unterbrochen von Vernehmungsprotokollen eines Mörders, der offensichtlich schon komplett jeden Bezug zur Realität verloren hat.

Wie es dem Autor dennoch gelingt, aus zunehmend surrealen Bruchstücken eine in sich schlüssige Geschichte zusammenzusetzen, ist eine echte Meisterleistung. Durchgehend spannend, manchmal schockierend, oft poetisch, immer unglaublich originell. Das Ende hat mich durch und durch überrascht, und dennoch ist es im Rückblick vielleicht das einzig mögliche.

Ein Teil der Spannung entsteht natürlich aus Fragen, die man sich auch in einem typischen Thriller stellen würde: wo ist der Junge, wer hat ihn entführt, wird er sterben müssen...? Aber viel der Spannung entsteht auch daraus, dass man als Leser zunehmend verunsichert feststellt, dass diese Fragen nicht die entscheidenden sind, und auf die Auflösung hinfiebert. Das Ganze ist wie ein 368 Seiten währender Traum, der zunehmend zum Albtraum wird, und man will aufwachen - aber erst will man die Wahrheit erfahren.

Dylan begegnet dem Leser als harmloser, gutmütiger Mensch. Sein Job ist langweilig und wenig erfüllend, aber in der Mittagspause geht er in den Park und setzt sich auf seine Lieblingsbank an einem kleinen Teich. Jeden Tag um die gleiche Zeit tritt dort ein kleiner Junge aus dem Dickicht, steht eine Weile stumm am Ufer und verschwindet wieder.

Für Dylan ist es SEIN Park. SEINE Bank. SEIN Teich. SEIN Junge. Er sieht sich selbst als Dichter, obwohl er seine Gedichte nicht veröffentlicht oder überhaupt mal jemandem gezeigt hat. Er war mir direkt sympathisch, und obwohl ich mein Bild von ihm im Laufe des Buches immer wieder anpassen musste, habe ich doch immer mit ihm mitgefiebert und mit ihm mitgelitten. Ich hatte das Gefühl, sein Wesen bis ins Innerste zu begreifen und ihn gleichzeitig überhaupt nicht zu kennen. Auch das ist ein Kunststück.

Den Schreibstil fand ich phänomenal. Dylan, der selbsternannte Dichter, findet großartige Worte für seine Geschichte. Schöne, lyrische Worte für sein kleines Paradies und die Schönheit der Natur. Grausame, erschütternde Worte für die Gewalt und das Leid.

Wie gesagt, ich bin verwirrt - aber ich bin auch beeindruckt. Das Buch macht es dem Leser vielleicht nicht immer einfach, aber es lohnt sich.

Fazit:
Ein Junge geht verloren. Ein Mann geht ihn suchen und verliert sich selbst.

Wenn man sich von allen Erwartungen verabschiedet, ist das eine sehr originelle Geschichte mit viel Tiefgang, unzähligen Wendungen und einem so ungewöhnlichen wie unabwendbaren Ende. Es ist vielleicht kein Thriller, aber dennoch psychologische Spannung vom Allerfeinsten.

Das Buch wird mir sicher noch lange im Gedächtnis bleiben, und ich bereue nicht, es gelesen zu haben, obwohl ich etwas ganz anderes erwartet hatte.Wer Gillian Flynn und ihre schwierigen, unzuverlässigen Heldinnen mag, wird vielleicht auch Dylan Aaronson mögen. Und wem Paula Hawkins' "Girl on the Train" gefiel, der sollte es auch mal mit "Boy in the Park" versuchen.


 

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