Rezension (5/5*) zu Besichtigung eines Unglücks: Roman von Gert Loschütz (Autor)

Literaturhexle

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2. April 2017
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Gert Loschütz hat sich mit dem Verfassen von Theaterstücken, Hörspielen und Romanen einen Namen gemacht und bereits zahlreiche Auszeichnungen erhalten. In seinem letzten Roman „Ein schönes Paar“, der mich sehr begeistert hat und für den Deutschen Buchpreis 2018 nominiert wurde, ließ er den Ich-Erzähler Philipp auf Spurensuche nach seinen Eltern gehen. In „Besichtigung eines Unglücks“ heißt der Ich-Erzähler Thomas Vandersee, der zunächst nur in einem der größten Bahnunfälle der Deutschen Geschichte in der Nähe der Stadt Genthin recherchiert. Diese Spurensuche bildet den Ausgangspunkt, führt den Erzähler aber zu weitreichenden Erkenntnissen aus seinem privaten Umfeld.

„Zwei Tage vor Heiligabend, zwölf Grad minus, 0 Uhr 53. Die Stadt, die Dörfer in tiefem Schlaf. Kein Mond, keine Sterne, kein Schnee. Dann der harte metallische Schlag, Eisen auf Eisen, das Kreischen der sich ineinander bohrenden Wagen, das Knirschen der sich stauchenden Bleche, das Krachen und Splittern zerberstenden Holzes. Alles in eins.“ (S.16)
Zwei Züge haben denselben Bahnhof verlassen, zunächst im Abstand von rund einer halben Stunde. Durch Verkettungen unglücklicher Umstände kommt es zur Katastrophe: Der D 180 fährt mit voller Geschwindigkeit auf den stehenden D 10 auf. 196 Menschen sterben, Hunderte werden verletzt. Welche Umstände haben dazu geführt? Vandersee ermittelt akribisch in Akten und Protokollen, denen auch persönliche Dokumente beiliegen. Es kam damals zu einer Verurteilung, aber war der Verurteilte auch der Schuldige? Unglaublich geschickt streut der Autor in fast protokollarischem Stil Zweifel, deckt unberücksichtigte historische Fakten auf, die einen neuen Blick auf den Fall gewähren und die Neugier des Lesers wecken: Waren wirklich nur vier Sekunden für den Unfall entscheidend? Recht schnell verweben sich die diesbezüglichen Recherchen mit der Mutter des Ich-Erzählers, die damals im Städtchen Genthin lebte und offenbar eine (lose?) Verbindung zu der überlebenden Passagierin Carla Finck hatte, die sich jedoch aus unbekannten Gründen anschließend als Carla Buonomo ausgab.

Im zweiten Teil des Romans werden die Spuren einer unglücklichen Liebesgeschichte verfolgt. Eben jene Carla war mit dem deutlich älteren Juden Richard verlobt, eine Verbindung, die in jenen Zeiten unter einem sehr schlechten Stern stand: „Was ihm Furcht machte, war ja kein Hirngespinst, es gab allen Grund zur Furcht, so wie es umgekehrt freilich gute Gründe gab, sich gegen sein wollüstiges Einverständnis mit dem Unglück zu wehren. Ja, nennen wir es so, Unglück, weil auch Carla es so nannte: diese ungeheure Anhäufung von Erniedrigungen und Unrecht, für das sie das Sammelwort unser Unglück hatte.“ (S. 144)

Warum befand sich Carla unter fremdem Namen mit einem italienischen Begleiter im Zug, während ihr Verlobter hunderte Kilometer entfernt in einer Sammelunterkunft für Juden lebte? Hatte sie Verrat an ihm begangen oder versuchte sie, den Geliebten zu retten?

Auch der Journalist Vandersee lebt in einer Beziehung, die er selbst als Verrat am betrogenen Ehemann seiner Geliebten Yps bezeichnet. Seine umfängliche Recherche im Umfeld des Zugunglücks führt ihn immer näher an verdrängte Erinnerungen, zur mittlerweile verstorbenen Mutter sowie zur eigenen Gegenwart heran. Klar wird, dass es trotz aller Mühen nicht für alle Zusammenhänge einen Beweis, eine Erklärung gibt. Zudem erweist sich manche Erinnerung als unzuverlässig.

Gert Loschütz serviert uns keine einfachen Wahrheiten und wohl auch keinen perfekten Roman. Das Buch ist in fünf unterschiedlich lange Teile gegliedert, deren Verbindung sich erst nach und nach erschließt und mich stellenweise an einen Episodenroman denken ließ. Dennoch hat mich die intensive Spurensuche enorm gefesselt. Betrachtet wird nämlich nicht nur ein Unglück, sondern mehrere. Die verschiedenen Ebenen werden gekonnt verzahnt. Dabei erweist sich der Autor einmal mehr wieder als herausragender Stilist. Seine Perspektivwechsel ergeben sich schlüssig, sein Erzählton ist präzise sowie elegant. Umgebung und Atmosphäre werden in intensiven, eindrücklichen Beschreibungen geschildert.

Loschütz beherrscht die Verzahnung historisch nachgewiesener Fakten mit der Fiktion rund um authentisch wirkende Lebensgeschichten widersprüchlicher und komplexer Figuren perfekt. Mit Fortschreiten der Lektüre ergeben sich immer stärker hervortretende Zusammenhänge zwischen den einzelnen Teilen. Erst die letzten Seiten liefern dabei das entscheidende Schlüsselmoment.

Es ist ein weitgehend melancholischer Ton, der uns durch den Roman begleitet. Er ist von großer Sachlichkeit und Genauigkeit geprägt. Die Themen stehen übergreifend und vielfältig im Raum. Der schreckliche Bahnunfall ist der Aufhänger für weitere Schicksale im Umfeld der Katastrophe. Es geht um Liebe, Verrat und Loyalität. Es geht um den Einfluss der NS-Diktatur in die Justiz, um den Umgang mit Juden. Aber auch um Vergangenheitsbewältigung und die Suche nach Herkunft und Wurzeln. Vandersee entdeckt Doppeldeutiges, lässt uns an seinen Gedankenspielen teilhaben: So könnte es gewesen sein; vielleicht aber auch ganz anders. Frei von jeglicher Schönfärberei werden nicht alle Fragen beantwortet. Damit müssen die Leser zurechtkommen. Auf alle Fälle ist „Besichtigung eines Unglücks“ ein höchst intensives, anspruchsvolles Leseerlebnis, auf das es sich einzulassen lohnt und dem ich große Anerkennung wünsche.


 

Wandablue

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Den ersten Teil finde ich tatsächlich als herausragend. Aber dann ... verliert der Roman mehr und mehr. Wozu diese ganze Geheimnistuerei um Vaterschaft ? Das ist mir allzu unklar und zu gewollt. Aber gut geschrieben.