Rezension Rezension (5/5*) zu Beale Street Blues: Roman von James Baldwin.

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Beale Street Blues von James Baldwin
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Ein brandaktueller Klassiker zwischen Liebe und Schmerz

Dieses Buch ist besonders. Es hat ganz viel mit Musik zu tun. Nicht nur der Titel, sondern auch viele Anlehnungen sowie die Überschriften der beiden Teile des Buches haben musikalische Bezüge und sind Texten zahlreicher Songs entnommen. Das heißt aber nicht, dass man musikalische Fachkenntnis benötigt, um die Geschichte zu verstehen. Es genügt, wenn man sich den Rhythmus, die Charakteristik des Blues vor Augen führt: Das ist ein Musikstück, das Tragik, Hoffnung, Liebe und Schmerz miteinander vereint. Die „Beale Street“ gilt als die Heimat des Blues, sie ist eine Straße in Downtown Memphis/Tennessee. Hier leben viele Afroamerikaner in Armut ohne Perspektive im sozialen Abseits.

In einer kurzen Vorbemerkung der deutschen Ausgabe hat Baldwin geschrieben: "Jeder in Amerika geborene Schwarze ist in der Beale Street, ist im Schwarzenviertel irgendeiner amerikanischen Stadt geboren, ob in Jackson, Mississippi, oder in Harlem in New York: Alle 'Nigger' stammen aus der Beale Street. Die Beale Street ist unser Erbe. Dieser Roman handelt von der Unmöglichkeit und von der Möglichkeit, von der absoluten Notwendigkeit, diesem Erbe Ausdruck zu geben."

Die Geschichte handelt in der Hauptsache von Tish und Fonny. Sie sind ein junges Paar, das sich von Kindheit an kennt und füreinander bestimmt zu sein scheint:
„… ich wurde seine kleine Schwester, und er wurde mein großer Bruder. (…) Und so wurden wir füreinander das, was dem anderen fehlte.“ (S. 24)

Die schwangere Tish erzählt von ihrem Verlobten Fonny, der im Gefängnis einsitzt. Sie erzählt sehr authentisch, mitunter poetisch und stellt nach und nach die weiteren Mitglieder der Familien vor, berichtet von Alltagserlebnissen, die dem Leser ein realistisches Bild über das Leben der Schwarzen in Harlem geben. Tish hat liebevolle Eltern und eine Schwester, die nicht einfach ist, aber auf die man sich fest verlassen kann. Fonny wird nur von seinem Vater geliebt. Die gottesfürchtige, ständig betende Mutter und die Schwestern verachten ihn. Allerdings hat Tishs Familie den jungen Mann längst ins Herz geschlossen. Dieser Familienzusammenhalt ist einzigartig, macht die schweren Zeiten erträglich.

Nach und nach wird klar, dass Fonny eine Vergewaltigung zur Last gelegt wird, die er nicht begangen hat. Dass man ihn trotzdem anklagt, scheint der Willkür des Vollzugs- und Rechtssystems geschuldet zu sein. Officer Bell, der ihn festnahm, ist ein Rassist und Lügner. Die gesamte Gesellschaft ist rassistisch, selbst die Schwarzen untereinander haben eine an die Schattierung der Hautfarbe angelegte Hierarchie.

Tishs Schwester Sis hat den Anwalt Hayward engagiert, dessen Bezahlung für die Familie ein Kraftakt ist. Er macht aber keine großen Hoffnungen:
„Wollen Sie damit sagen“, fragte ich, „es gibt keine Chance, dass wir in diesem Fall an die Wahrheit rankommen?“
„Nein, das will ich damit nicht sagen“. (…) „Die Wahrheit zählt nicht bei einem Fall. Was zählt ist – wer gewinnt.“ (S. 105)

Hayward setzt sich für seinen Mandanten ein, durchleuchtet das Umfeld der beteiligten Personen und entwirft eine Strategie. Dieser Rechtsfall bildet den spannenden Plot des Romans. Nebenbei erfährt der Leser viel über das Leben der Schwarzen Gemeinde, über deren Lebensumstände, über die Schwierigkeit einen guten Job zu bekommen, über die Vorurteile, mit denen sich die Menschen konfrontiert sehen.

Die Bedingungen im Gefängnis werden durch Daniel verdeutlicht, einen alten Freund von Fonny. Ihm wurde seinerzeit ein Autodiebstahl angelastet, den er mangels Fahrfähigkeit gar nicht begangen haben konnte:
„Aber ich hab nichts gemacht. Sie haben mit mir gespielt, weil sie es konnten. Und ich hab noch Glück, dass es nur zwei Jahre waren, echt.“ (S. 114)
Daniel ist infolge traumatisiert, hat Schwierigkeiten, sein Leben in den Griff zu kriegen.

Es sind diese Schicksale, die neben dem Hauptplot rund um den Kampf um Fonnys Freiheit dieses Buch so berührend, so realistisch machen. Es sind auch nicht alle Schwarzen in diesem Buch gut, ebenso wenig wie alle Weißen schlecht sind. Es gibt überall Graubereiche und Ausnahmen von der Regel. „Beale Street Blues“ lässt einen nicht unberührt zurück. Es hat wirklich eine Ambivalenz von Liebe und Schmerz in sich und zeigt die Facetten einer stark rassistischen amerikanischen Gesellschaft auf. Ein bewegendes Buch, ein Klassiker - brandaktuell und wichtig. Baldwin hat ein enormes Talent, Gefühle ohne Pathos in einfühlsame Worte zu kleiden.
Volle Lese-Empfehlung von mir!

Ich bin gespannt, ob der DTV-Verlag noch weitere Werke von Baldwin neu auflegt. Die ersten beiden (dieses und "Von dieser Welt") haben mir richtig gut gefallen und Lust auf mehr gemacht.