Rezension (5/5*) zu Bartleby, der Schreibgehilfe von Herman Melville

Anjuta

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8. Januar 2016
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Buchinformationen und Rezensionen zu Bartleby, der Schreibgehilfe von Herman Melville
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Totalverweigerer im Schreibkontor

Mit “Bartleby, der Schreibgehilfe” hat die Penguin Edition eine kleine, wirklich nicht zu vergessende Perle in ihre Sammlung von Klassikerneuauflagen aufgenommen. Hermann Melville entführt den Leser in dieser Erzählung in die Welt der Wallstreet, bevor diese zum Zentrum der Weltfinanzen geworden ist. Ein kleines Anwaltskontor ist Handlungsort der Erzählung, in der uns der Anwalt aus seiner Sicht über das sehr besondere Personal seiner Kanzlei berichtet. 2 Angestellte hat er zunächst, die für ihn die stupide Arbeit des Kopierens seiner Korrespondenz und Arbeit verrichten. Verrückte Typen sind das: einer nur vormittags arbeitsfähig, der andere nur nachmittags, und doch funktioniert das Kontor und hält der Anwalt seinen Angestellten die Treue und geht auf seine naive, etwas weltfremde, aber ungemein sympathische Art auf die Schrullen der Mitarbeiter ein und lässt sie großenteils gewähren, während er das Optimum für seine Arbeit aus ihnen herausholt. Das Geschäft wächst und so wird ein weiterer Angestellter benötigt und nun holt sich der Anwalt einen weiteren Typen ins Kontor: Bartleby, der sich zunächst als leistungsfähig und -willig erweist und schnell eine gute Stelle im Arbeitssystem des Kontors einnehmen kann. Doch das bleibt nicht so. Bartleby entwickelt sich immer mehr zum Sonderling, verweigert aufgetragene Arbeiten mit dem immergleichen „Ich möchte lieber nicht“ und zieht sich immer mehr in seine speziell abgetrennte Ecke des Kontors zurück. Der Erzähler und Chef dieses Bartleby vermag mit seinen Mitteln nicht, diese Verweigerungshaltung zu durchbrechen und scheitert immer wieder an dem konsequenten Nein Bartlebys. Und so lebt Bartleby in seiner abgeschotteten Parallelwelt inmitten des ruhigen, aber doch geschäftigen Treibens des Kontors, das er gar nicht mehr verlässt, sondern zu seinem Heim macht. Immer mehr erweist sich, dass dieses Nebeneinander von Geschäft und dem Totalverweigerer Bartleby nicht weiterbestehen kann. Die Lösung, die der Anwalt für die verfahrene Situation wählt, ist aber nicht etwa der Rausschmiss Bartlebys, sondern sein eigener Umzug in ein anderes Büro. Doch auch das bringt nicht die Lösung des Problems und der Situation. Auch hier wird er Bartleby nicht los.
Diese Erzählung hat mir ein ungemeines Lesevergnügen beschert. Nicht nur sind die (schriftstellerisch pointiert und treffsicher dargestellten) Typen die Lektüre mehr als wert. Auch der Schreibstil, der den erzählenden Anwalt treffsicher zu charakterisieren vermag und das Geschehen in einer transparenten Erzähllogik wiedergibt, unterstreicht dieses Lesevergnügen. Eine Ärmelschoner- und Tintenkleckserwelt wird hier entworfen, die eine untergegangene Ära zu einem humorvollen und aussagekräftigen, auch heute noch Bedeutung habenden Wiederaufleben verhilft. Die Welt, die im 20. Jahrhundert durch technischen Fortschritt ersetzt wurde durch die „tippenden Fräuleins“ ist hier noch bevölkert mit ehrgeizlosen, sich durch Langeweile quälenden Männern an Schreibpulten. Eine komplette Umwandlung dieser gesellschaftlichen Sphäre hat in der Nach-Bartleby-Zeit stattgefunden. Und doch bleibt der Typ des Totalverweigerers, wie ihn Bartleby repräsentiert einer, der in allen Zeiten wiederauflebt und seine besonderen Problemstellungen für alle, die in der Gesellschaft irgendwie mitmachen, hinterlässt. Die Erzählung ist deshalb auch heute noch eine literarische Perle mit Aktualität und Bedeutung. Und verdient absolut 5 Sterne von mir.