Rezension (5/5*) zu Aufzeichnungen aus dem Untergrund von Fjodor Dostojewski

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Buchinformationen und Rezensionen zu Aufzeichnungen aus dem Untergrund von Fjodor Dostojewski
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"Ich kann kein guter Mensch sein!"

Die "Aufzeichnungen aus dem Untergrund" sind verfasst von einem Ich-Erzähler, der sich mit den Worten vorstellt: "Ich bin ein kranker Mensch ... ich bin ein zorniger Mensch. Ein hässlicher Mensch bin ich." Damit wird bereits angedeutet, dass wir es mit einem Wutbürger zu tun haben, einem erbitterten, misanthropischen Erzähler, der weder an seinen Mitmenschen noch an sich selbst ein gutes Haar lässt. Selbst wo er von sich selbst behauptet, klüger zu sein als alle anderen, relativiert er dies gleichzeitig mit dem Zusatz, er sei "selbstverliebt", wenige Absätze später heißt es, dass er "keine Selbstachtung" besitze, sogar im "Gefühl der eigenen Erniedrigung" Lust empfinde - mit einem Wort, er präsentiert sich wie ein Wackelbildchen früherer Zeiten, das aus jeder Perspektive etwas anderes darstellt.
Der wütende Erzähler ist ein ehemaliger Beamter, der sich mit den Mitteln einer kleinen Erbschaft in ein "heruntergekommenes und armseliges Zimmer" in St. Petersburg zurückgezogen hat, bedient von einem "alten Bauernweib" und offenbar völlig vereinsamt. Nachdem er in der beschriebenen Weise sprunghaft und widersprüchlich seine Ansichten dargelegt hat - die im wesentlichen auf eine Art nihilistische Lebensverneinung hinauslaufen -, folgt im zweiten Teil "Angelegentlich nassen Schnees" eine Reihe Erinnerungen. Er sucht die Gesellschaft einiger alter Schulfreunde, drängt sich ihnen auf, begleitet sie in ein Freudenhaus und begegnet der Prostituierten Lisa, der er eine Moralpredigt hält. Dabei gibt er sich den Anschein der Aufrichtigkeit; als Lisa ihn jedoch, auf seine Einladung hin, wenig später besucht, erklärt er ihr zunächst, er habe sich über sie lustig gemacht, um gleich darauf wieder in wütende Selbstbezichtigung zu verfallen: "Man lässt mich nicht, ich kann kein guter Mensch sein!"

Die innere Widersprüchlichkeit des Textes ist Programm. Dostojewski wendet sich in der Person seines Erzählers gegen Fortschrittsglauben und philosophische Systeme, die auf der Annahme gründen, dass der Mensch durch bestimmte Umstände grundsätzlich zu bessern sei: "Jedenfalls ist der Mensch durch die Zivilisation wenn schon nicht blutrünstiger, so wohl doch auf niederträchtigere und widerwärtigere Weise blutrünstig geworden, als er vorher war" stellt er fest, was in Anbetracht des Erscheinungsjahres 1864 geradezu hellsichtig erscheint. Der Mensch ist nicht zu bessern, weil er nicht zu berechnen ist: "... weil der Mensch, stets und überall, wie auch immer er geartet sein mag, zu handeln beliebt, wie er will und ganz und gar nicht danach, wie ihm Verstand und Vorteil gebieten".

In der Person dieses Erzählers ist das spätere Romanpersonal Dostojewskis, die von inneren Zwängen und Selbsthass getriebenen Antihelden, bereits charakterisiert. Die "Aufzeichnungen aus dem Untergrund" sind, wenn auch nicht gerade unterhaltsam zu lesen, eine bestechende psychologische Studie und in ihrer Kürze bereits ein umfassender Einblick in Dostojewskis Schaffen.
Hervorzuheben sind die Übersetzung von Ursula Keller, die sehr frisch und in keiner Weise altmodisch wirkt, und die hochwertige Aufmachung des Bandes, wie man sie von Manesse kennt: der schöne Umschlag, die farblich passende Fadenheftung, das feine Papier und der lesefreundliche Druck. Eine Reihe erklärende Anmerkungen und ein Nachwort der Übersetzerin mit einer klugen literaturgeschichtlichen Einordnung erleichtern den Zugang. Leseempfehlung!

 

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