Für alle, die es nicht glauben wollen (oder es erst noch entdecken müssen), sei beispielhaft eine kurze Passage aus McEwans Roman Am Strand zitiert. Er handelt von dem frisch verheirateten Traumpaar Edward und Florence, die in den Flitterwochen 1962 an den Strand von Chesil Beach gekommen sind, um die Ehe zu vollziehen. Es ist jene Stelle, in der Edward seiner von Ekel geschüttelte Florence einen Zungenkuss abzuringen sucht -- und letztendlich klar wird, dass der körperliche Widerwillen der jungen Frau gegenüber ihrem Mann die Beziehung auf eine harte Probe stellt.
„Kaum küssten sie sich, spürte sie seine pralle, harte Zunge, die sich forsch zwischen ihre Zähne schob. In sie eindrang“, heißt es dort. „Die Lippen fest auf ihre gepresst, tastete er sich über den fleischigen Boden ihrer Mundhöhle und fuhr die Zahninnenseite ihres Unterkiefers entlang bis zu jenem Loch, in dem vor drei Jahren noch ein schiefer Weisheitszahn gewachsen war. (...) Jetzt war er unter ihrer Zunge, presste sie ans Gaumendach, dann war er darüber, presste sie nach unten, gleich darauf umspielte er die Ränder und wanderte rundherum, als schürze er einen Knoten.“ Das Ende der Ehe ist in dieser klinischen Beschreibung einer oralen Vergewaltigung schon mit eingeschrieben.
Dann macht Florence Edward ein unmoralisches Angebot. Noch in den Flitterwochen trennt sich der Mann daraufhin von seiner großen Liebe. In einem kurzen, desillusionierenden Nachspann macht McEwan klar, dass dies aus mehreren Gründen die falsche Entscheidung war. Am Strand braucht nicht mal zehn abschließende Seiten, um anhand von Edwards weiterem Lebenslauf das ganze tragische Ausmaß dieser banalen Katastrophe aufzuzeigen. Auch das ist meisterlich gemacht, mit keinem Wort zu viel. Besser, klüger und schöner kann man wohl nicht erzählen. -- Thomas Köster, Literaturanzeiger.deKaufen
"Die Liebe ist ein seltsames Spiel..." - so sang schon Conny Francis 1964. Und etwa um diese Zeit (1962) hat Ian McEwan seinen Roman "Am Strand" angesiedelt. Es ist eine Zeit des (politischen) Umbruchs in England - Kolonien werden aufgelöst, es gibt Bestrebungen, der EU beizutreten (in Zeiten des Brexits so etwas zu lesen treibt einem irgendwie das gefrierende Grinsen ins Gesicht) und die Bevölkerung demonstriert gegen die Atombombe.
"Am Strand" ist jedoch kein politischer Roman, sondern (auf den ersten Blick) eine Liebesgeschichte. Wenn man jedoch die 207 Seiten zwischen den Buchdeckeln gelesen hat, lautet zumindest mein Urteil: kammerspielartiges Psychogramm zweier Menschen, die unter völlig falschen Vorstellungen von- und übereinander sich auf das "Abenteuer" Ehe einlassen und zum Schluss (wie soll es auch anders sein) grandios scheitern.
Wer Action sucht, wird hier nicht fündig. Wer aber wissen will, was Edward und Florence gemeinsam haben (oder auch nicht) und welchen denkwürdigen und (für damalige Verhältnisse) skandalösen Vorschlag Florence ihrem frisch angetrauten Ehemann macht, sollte diesen nachhallenden Roman lesen.