Rezension (5/5*) zu Alphabet (Quartbuch) von Kathy Page

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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ABC

…die Katze liegt im Schnee. Okay, jeder von uns kennt diese Kinderlieder, die einem in Mark und Bein übergegangen sind. Wir alle brauchen Buchstaben zum Wörter und Sätze formen und für das, was uns verbindet: das L E S E N. Die meisten von uns lernen das ABC von klein auf.

Aber es gibt auch Menschen (2019 lag die Quote der Analphabeten weltweit bei 14% oder 773 Millionen Menschen; Quelle: Statistisches Bundesamt), die entweder gar nicht oder erst im Erwachsenenalter Lesen und daraus folgend Schreiben lernen.

Zu Letzteren gehört Simon – seines Zeichens Hauptprotagonist in Kathy Page´s Roman „Alphabet“, der im Original bereits 2004 in England und 2014 in Kanada erschienen ist, jedoch erst jetzt im Wagenbach-Verlag in der Übersetzung von Beatrice Faßbender ins Deutsche übertragen wurde – ein (so viel vorab) Glücksgriff für Liebhaber anspruchsvoller Literatur!

Simon sitzt wegen Mordes an seiner Freundin im Gefängnis – lebenslänglich. Die Haftbedingungen im Thatcher-England Ende der 1980er Jahre sind trüb, brutal und von Willkür durchzogen – wohl dem, der einen Fürsprecher hat…Während seiner Zeit in Haft fängt Simon an, sich lesen und schreiben beibringen zu lassen, macht schnell große Fortschritte und kann nach geraumer Zeit Brieffreundschaften zu Frauen außerhalb der Gefängnismauern aufbauen – nicht immer von „Erfolg“ gekrönt. In den Briefen lässt er sich auch unter anderem über den Strafvollzug aus:

„Unsere Gefängnisse platzen aus allen Nähten; Gefangene werden in beengten Verhältnissen festgehalten, haben kaum oder gar keinen Zugang zu jenen Bildungs- oder Sozialangeboten, die sie unter Umständen verändern könnten. Aus den Augen, aus dem Sinn, befürchte ich. Ich meine, hier sollte sich etwas verbessern, finden Sie nicht?“ (S. 46)

Kathy Page war Mitte der Neunziger Jahre als „Writer in Residence“ in einem britischen Männergefängnis tätig und bringt hier ihren Unmut über die Verhältnisse zum Ausdruck. Auch wenn sich aus heutiger Sicht einiges getan hat, was sich „Resozialisierung“ nennt, gibt es sicherlich noch „Luft nach oben“. Natürlich darf man nicht dabei außer Acht lassen, dass viele Straf- und Gewalttäter andere Menschen umgebracht haben, aber unmenschliche Haftbedingungen müssen auch nicht sein – und jeder Mensch hat ein Recht auf Bildung…

Im Lauf der Handlung wird Simon immer wieder von einem Gefängnis in die nächste Anstalt „transportiert“ und abgeschoben (auch hier spielt wieder Willkür eine Rolle), lernt, mit seiner Tat umzugehen und über sie zu reflektieren, wird verprügelt und vergiftet und lernt auf der Krankenstation Victor kennen, der kurz vor einer Geschlechtsumwandlung steht und sich alsdann Charlotte nennt…

In schlicht schön formulierter Sprache hat Kathy Page hier einen (sozial-)kritischen Blick auf das Strafvollzugssystem geworfen, lässt uns (die Leserinnen und Leser) außerdem einen tiefen Blick in die Psyche eines Täters werfen und hat für ein Lesehighlight 2021 gesorgt.

Well done, Mrs. Page! 5* und eine absolute Leseempfehlung!

©kingofmusic


 

Literaturhexle

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Gut gemacht, König! Man kann es auch auf Deutsch sagen;)
Den Verlag müssen wir uns merken. Ich möchte wetten, da gibt es manchen Schatz zu heben.
 
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