Rezension (5/5*) zu Alphabet (Quartbuch) von Kathy Page

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ein langwieriger Veränderungsprozess

Simon ist ein junger Mann Ende 20, seit knapp acht Jahren befindet er sich im Gefängnis mit mäßigen Aussichten, denn sein Urteil lautet lebenslänglich. Simon hat nicht viel Glück im Leben gehabt. Seine Mutter verließ ihn, dann kamen Heime, Pflegefamilien – nirgends durfte er sesshaft werden, Liebe und Geborgenheit waren Mangelware. Seine ersten Berührungen mit ernsthafter Bildung macht er paradoxerweise erst im Gefängnis. Dort lernt er Lesen und Schreiben, es gelingt ihm sogar, den mittleren Schulabschluss nachzuholen. Verbotenerweise nimmt er schriftlichen Kontakt mit zwei unbekannten Frauen auf, was ihm neben Scherereien auch eine Schreibmaschine einbringt. Erstmalig schreibt er damit seine verfahrene Lebensgeschichte auf, womit dem Gerät eine Art Schlüsselfunktion zukommt. Buchstaben, Worte, das titelgebende Alphabet haben ohnehin eine komplexe Bedeutung für den Protagonisten.

Der Gefängnisalltag ist hart, es gilt konsequent das Recht des Stärkeren. Der Umgang ist rüde, Gewalt an der Tagesordnung, der Justizvollzug unterfinanziert und farblos. Der Autorin gelingt es souverän, diese trostlose Atmosphäre während der Regierung Thatcher Ende der 1980er Jahre spürbar zu machen. Man merkt, dass sie persönlich intensive Recherchen in diesem Umfeld durchgeführt hat, wie sie im Nachwort belegt.

Die Betreuer der Inhaftierten wirken unmotiviert und überfordert. Bis, ja bis, Bernadette Nightingale als Krankheitsvertretung mit Simon in Kontakt tritt. Ihr gelingt es, die richtigen Saiten anzuschlagen, um den verschlossenen, zwanghaft kontrollierten jungen Mann ein Stückweit zu öffnen und dafür zu sorgen, dass er sich erstmalig mit seiner Tat ernsthaft auseinandersetzt. Den Mord an seiner Freundin Amanda hat er bislang weitgehend verdrängt. In der Kürze der Zeit kann Bernadette nicht alle Hoffnungen Simons erfüllen. Sie sorgt aber dafür, dass er in eine Therapieeinrichtung nach Wendham verlegt wird, in der junge Straftäter gezielt behandelt werden, um ihnen eine spätere Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu ermöglichen.

Dort herrscht ein freundlicheres Klima in einer förderlichen Umgebung. Viele Sitzungen finden als Gruppentherapie statt. Die Bewohner unterstützen und kritisieren sich gegenseitig. Es fällt Simon auch hier nicht leicht, sich den strengen Regeln zu unterwerfen. Immer wieder eckt er an, weigert sich, sein Innerstes zu offenbaren, sich seiner Tat in aller Konsequenz zu stellen. Schwierigkeiten sind vorprogrammiert.

Der Leser wird in eine ihm völlig fremde Umgebung geführt, die durch die dezidierten Beschreibungen und Beobachtungen authentisch und greifbar wird. Simon ist ein überdurchschnittlich intelligenter junger Mann, der aber große Defizite im Zwischenmenschlichen und auf der Gefühlsebene hat. Auf den ersten Blick wirkt Simon wie ein Muster-Gefangener, der die Bibliothek betreut, sich von Drogen und Konflikten fernhält. Man mag ihm seine brutale Tat, deren Umstände nach und nach zutage treten, gar nicht zutrauen. Als Leser taucht man tief in diese Figur ein. Wir erfahren Simons Gedanken auf verschiedene Weisen. Man spürt seine Zerrissenheit, seine Verzweiflung, Hoffnung, seine Sehnsucht nach Zuneigung. Man wird auf eine Achterbahnfahrt geschickt, bei der deutlich wird, dass die Therapie eines Schwerverbrechers kein Spaziergang ist, sondern harte Arbeit. Man lernt verschiedene therapeutische Ansätze kennen. Alle verlangen sie größte Disziplin und Offenheit, wozu nicht jeder gleichermaßen willens und in der Lage ist. In Gruppen- und Einzelstunden werden die Täter mit ihren Taten direkt konfrontiert. Wegtauchen geht nicht, es gilt Aggressivität und unkontrollierte Sexualität in den Griff zu bekommen. Ehrliche Reue steht am Anfang eines langen Veränderungsprozesses.

Simon hat selbst Zweifel daran, ob es ihm gelingt, sich so sehr zu verändern, dass er am Ende irgendwann wieder in Freiheit leben darf. Er hat das Glück, Menschen zu begegnen, die ihn ein Stück seines Weges begleiten, ihn ermutigen und inspirieren. Neben Bernadette ist auch Charlotte solch ein Mensch, deren eigener Transformationsprozess ganz anderer Natur ist. Dennoch dient er Simon als Vorbild, bringt ihn persönlich weiter. Die Ausdauer und Willenskraft dieses jungen Mannes ist überhaupt beachtlich. Er ist ein Stehaufmännchen im besten Sinn, wodurch das Buch niemals in Selbstmitleid und Sentimentalität abgleitet, sondern auf ernste Weise positive Attribute setzt.

Dieser Roman, an dem Kathy Page über mehrere Jahre gearbeitet hat und der der englischsprachigen Bevölkerung bereits 2004 zugänglich gemacht wurde, zeichnet ein äußerst realistisches Bild vom Gefängnisalltag in Großbritannien. Die Autorin versteht es, den Leser schnell in die Geschichte zu involvieren. Kathy Page beobachtet genau, nutzt einen variantenreichen, der jeweiligen Situation angepassten Sprachstil. Am Ende hat man das Gefühl, den Protagonisten richtig gut zu kennen. Der gesamte Roman ist in sich rund und gelungen. Es gibt überraschende Drehmomente, immer wieder wird man zu eigenen Gedanken aufgefordert. Das Ende des Romans stellt sich ganz anders dar, als ich es erwartet hätte. Aber es ist großartig gelöst, auch da bleibt die Autorin ihrem ernsten, realistischen Kontext treu und driftet nicht in bloßes Wunschdenken ab.

Nach „All unsere Jahre“ ist dies mein zweiter Roman von Kathy Page. Ich bewundere Autoren, denen es gelingt, völlig unterschiedliche Themen überzeugend und versiert darzustellen. Kathy Page gehört eindeutig in diese Kategorie, sie kann es einfach. Hoffentlich legt der Wagenbach Verlag nach und veröffentlicht weitere Romane dieser begabten in Kanada lebenden Autorin.

Große Lese-Empfehlung!



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