Rezension (5/5*) zu Alphabet (Quartbuch) von Kathy Page

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.365
21.145
49
Brandenburg
Was passiert in einem Knast?

Kurzmeinung: Gesellschaftlich relevant wie eh und je.


Der 29jährige Simon Austen wird zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, weil er seine Freundin Amanda umgebracht hat. Die Autorin erzählt uns, wie es dazu kommen konnte. Und ob Simon eine Chance auf Resozialisierung hat.

In einem spannenden Plot teilt die Leserschaft zunächst den Alltag mit Simon. Man erlebt, wie Simon Austen mit der im Gefängnis herrschenden Hierarchie klar kommt, der Brutalität und Gewalt, die unter den Häftlingen an der Tagesordnung ist. Wie Simon diverse Überlebensstrategien ausprobiert. Manche scheitern, manche haben Erfolg. Simon hat enorme Schwierigkeiten mit Impulskontrolle und damit, mit Frust umzugehen.

Als er in den Knast kommt, ist Simon Analphabet. Doch ein engagierter Sozialarbeiter bringt ihm das Lesen und das Schreiben bei. Diese Fähigkeiten eröffnen Simon Fluchtmöglichkeiten. Er kann plötzlich kommunizieren und er kommt, mindestens in Gedanken, nach draußen. Simon versucht es mit einer Brieffreundschaft.

Eines Tages erhält er die Chance, in ein haftinternes Therapiezentrum zu wechseln. Er nimmt seine Chance wahr, doch es fällt ihm nicht leicht, sich den Therapeuten und Therapeutinnen zu öffnen, sich seiner Verantwortung für seine Mordtat zu stellen, die Dinge zu reflektieren und vor allem sich in die Karten gucken zu lassen, was seine sexuellen Vorlieben angeht. Er kooperiert nur mäßig und muss deshalb zurück in den normalen brutalen Haftalltag. Wird Simon eine weitere Chance bekommen, ein lebenswertes Leben zu leben oder wird er im Knast auf einem niedrigen menschlichen Niveau dahinvegetieren müssen bis ans Ende seiner Tage?

Der Kommentar:
Kathy Page, die eine Weile in einer Männerhaftanstalt tätig war, legt ein sehr engagieres Buch vor. Es ist ein schwieriges Thema von gesellschaftlicher Relevanz wie eh und je. Wie geht man mit Tätern um, die gefährlich für die Allgemeinheit sind? Immerhin sind sie noch immer Menschen. Und haben das Recht auf Würde. Auf der anderen Seite steht der Schutz der Gesellschaft. Wie resozialisiert man die Täter, wie sinnvoll ist Strafe? Es gibt keine leichten Antworten.

Der Leser vermag es, sich in Simon hineinzuversetzen. Er ist nicht böse per se, er ist ein Mensch, der einen schlimmen Fehler gemacht hat. Und nun? Den Menschen, die bereit sind, mit den Inhaftierten zu arbeiten, den Sozialarbeitern, Medizinern und Therapeuten ist man zu großem Dank verpflichtet. Auch sie sind jedoch nur Menschen und nicht immer fair. Aber sie tun ihr Bestes. Meistens.

Im besten Fall gelingt ihnen die Resozialisierung ihrer Klienten, im schlechtesten Fall rutschen die Häftlinge in die komplette Verrohung ab. Das ist bedrückend.

Dass Kathy Page ihren Protagonisten, Simon Austen vom Analphabeten bis zum Studenten der Sozialwissenschaften bildungstechnisch aufsteigen läßt, scheint dem unbedarften Leser etwas zu viel des Guten zu sein. Und auch, ja, ein wenig reißerisch. Aber sei es drum. Man kann es ihr nicht verübeln, dass sie ihren Roman so spannend und interessant wie möglich zu gestalten versucht. Das Thema hat nichts von seiner Dringlichkeit verloren.

Der schon 2004 im Original veröffentlichte Roman „Alphabet“ zeigt, natürlich nicht zum ersten Mal, wie wichtig es ist, Bildung vor allem in die strukturschwachen und bildungsfernen Schichten zu bringen. Was in der Regel fehlt, ist Kleingeld, Personal und Empathie. Kathy Page tut ihr Möglichstes, um auf unkitschige Weise auf das Problem aufmerksam zu machen.

Fazit: Ein guter Roman mit nachvollziehbarem gesellschaftlichen Anliegen, der sich wunderbar lesen läßt.

Kategorie: Gute Unterhaltung
Verlag: Wagenbach, 2021



von: Marie Gamillscheg
von: Matthias Wittekindt
von: Philipp Meyer
 
Zuletzt bearbeitet:

Literaturhexle

Moderator
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2. April 2017
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Du bist aber flotto_O
Ich muss da erstmal drüber schlafen. Aber die Fünf muss ich glaub ich auch zücken.
Wirklich ein besonderes Buch und bis zum Ende glaubwürdig umgesetzt.
 

Emswashed

Bekanntes Mitglied
9. Mai 2020
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Da ich wusste, dass Du nichts übers Ende verrätst, habe ich schon mal gelinst, nachdem ich "zwangsweise" eine größere Pause vor dem letzten Abschnitt einschieben musst (jaja, liebe @Literaturhexle, ICH habe eine Pause gemacht;)).
Ich bin froh, dass Du doch 5 Sterne vergeben hast, meine Begeisterung hätte sonst einen kleinen Makel gehabt.:D