Rezension Rezension (5/5*) zu Abschiedsfarben von Bernhard Schlink.

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Abschiedsfarben von Schlink, Bernhard
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Nachdenkliche Geschichten über das Abschiednehmen

Abschiedsfarben – gut gewählt ist dieser Titel, kreisen doch die Geschichten in Schlinks neuem Buch rund um das Thema Abschied. Mit 70 Jahren wird sich nicht nur ein Autor mit dem Tod und der Vergänglichkeit der eigenen Existenz auseinandersetzen, doch ein Autor tut es mit Worten und lässt uns, die Leser, daran teilhaben:

„Sie sind tot – die Frauen, die ich geliebt habe, die Freunde, der Bruder und die Schwester und ohnehin die Eltern, Tanten und Onkel. Ich bin zu ihren Beerdigungen gegangen, vor vielen Jahren oft, weil damals die Generation vor mir starb, dann selten und in den letzten Jahren wieder oft, weil meine Generation stirbt.“ (S. 7)

Doch der Tod ist nur eine der Facetten dieses Werkes, die thematische Ausrichtung wirkt weit vielfältiger. Es geht um Abschied von einem verstorbenen Freund/einer Freundin, von der Kindheit/Jugend, von einer Liebe, von der Unschuld, von der Rechtschaffenheit,… Der Autor hat eine gute Beobachtungsgabe, seine Erzählungen wirken nicht konstruiert, alles könnte genau so stattgefunden haben.

Jede Geschichte ist ein Reich für sich, in das man eintauchen kann. Immer gibt es neues Personal und verschiedene Erzählperspektiven. Allen gemein ist der leicht verständliche Plauderton, in dem Schlink einsteigt. Er setzt uns behutsam ab, stellt seine Figuren vor, kommt regelrecht ins Schwadronieren. Seine Gedanken gehen spazieren, man wird eingelullt – bis man schließlich zum Kern der Geschichte vordringt, wo auf einmal eine unvorhergesehene Wendung überrascht. Spätestens ab diesem Zeitpunkt entwickelt sich ein unglaublicher Sog.

Schlink gibt seinen Figuren große Komplexität, er verzichtet auf Stereotype und Schwarz-Weiß-Malerei. Er zeigt menschliche Abgründe, die zu Gewissenskonflikten führen. Niedrige Beweggründe wie Rache oder Eifersucht führen zu falschem, unrechtem oder zumindest unredlichem Verhalten. Kann eventuell sogar „aus etwas Falschem etwas Richtiges werden?“ (vgl. S. 151)

Nicht alle Geschichten haben ein konkretes Ende. Es obliegt dem Leser, die Handlung weiterzuspinnen, sich Gedanken zu machen über das Gelesene. Doch man steht keinesfalls im luftleeren Raum, Schlink hilft uns, gibt uns ein Geländer an die Hand, so dass man aus jeder seiner Erzählungen befriedigt auftauchen kann. Ideal eignet sich der Band für Lesekreise, weil er großes Diskussionspotential enthält.

Das liegt natürlich auch an der intensiven literarischen Auseinandersetzung. Schlink gibt sich nicht mit Oberflächlichkeiten zufrieden. Er beschreibt differenziert und in die Tiefe gehend, beleuchtet komplexe psychologische Aspekte und spaltet sie auf. In den nachdenklichen Erzählungen finden sich wunderschöne Sätze und Bilder:
„Es tut mir leid, Sabine. Was war, was ich getan habe – es tut mir leid. Aber mehr noch macht es mich traurig. Meine Traurigkeit legt sich auf alles, sie macht mich müde, sie ist ein schwarzes Wasser, ein schwarzer See, in dem ich ertrinke, unentwegt ertrinke.“ (S. 115)

Es gibt auch etwas leichtere Erzählungen rund um Erinnerungen an Urlaub, Liebe, an den Abschied von der Kindheit oder den Umgang mit dem Älterwerden. Seichtes sucht man jedoch vergeblich.

„Er saß auf einer Bank, die laue Luft war nachsichtig, und er dachte schon, er könne die Vergangenheit wie ein gefaltetes Papierschiffchen auf den Kanal setzen und davonschwimmen lassen. Bis ein kühler Wind vom Wasser aufkam und die laue Luft vertrieb.“ (S. 207)

Einige Geschichten werden von einem auktorialen, einige von einem Ich-Erzähler präsentiert. In der Geschichte „Daniel, my Brother“ liegt der Eindruck nahe, dass der Autor hier tatsächlich den Tod seines eigenen Bruders verarbeitet. Wie sensibel er seine Erinnerungen sortiert, die gemeinsamen Erlebnisse schildert, wie er sowohl die schönen Kindheitserinnerungen als auch die Reibungspunkte und Missverständnisse des Erwachsenenlebens vor uns ausbreitet – ohne sich oder den Bruder zu entblößen – das zeigt die große Klasse Bernhard Schlinks. Er ist ein Autor, der sowohl die lange als auch die kurze literarische Form bravourös beherrscht.

Ich bin begeistert von diesem Geschichtenband, dem ich eine breite Leserschaft wünsche und den ich mit vollen 5 Sternen bewerte.


 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Und ich bin begeistert von dieser Rezension. Der Autor ist ein Lyriker. Ich mag besonders das allererste Zitat von ihm. Danke fürs Vorstellen.
Wanda, ein solches Kompliment von dir - da fühle ich mich regelrecht geadelt - weiß ich doch deine absolute Ehrlichkeit mittlerweile zu schätzen.
Danke für die Blumen :D
Und: Selberlesen. Ist echt Klasse!
 
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