Rezension Rezension (5/5*) zu Abendrot von Kent Haruf.

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Abendrot von Kent Haruf
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Neues aus Holt, Colorado - Phantastisch erzählt

„Bleib bei mir, Herr! Der Abend bricht herein.
Es kommt die Nacht, die Finsternis fällt ein.
Wo fänd´ ich Trost, wärst du, mein Gott, nicht hier?
Hilf dem, er hilflos ist: Herr, bleib bei mir!“
Henry F. Lyte
(S. 7, Vorspann)

Dieses ist nun der dritte Roman, den ich von Kent Haruf gelesen habe. Wieder ist er bei Diogenes erschienen, wieder spielt er im fiktiven Städtchen Holt am Rande der Great Plains (Große Ebenen) und nicht weit von Denver gelegen. Bereits im ersten Kapitel gibt es ein Wiedersehen mit den McPheron Brüdern Harold und Raymond. Beide bewirtschaften eine kleine Ranch mit Rinderzucht. Im „Lied der Weite“ hatten sie die schwangere Jugendliche Victoria bei sich aufgenommen, deren Gesellschaft den etwas verschrobenen Brüdern gut getan hat. Sie ist den Brüdern eine Tochter geworden. Doch jetzt steht Victoria davor, ihr eigenes Leben wieder aufzunehmen und die Ranch zu verlassen, um in Fort Collins zu studieren. Den beiden Brüdern fällt der Abschied sehr schwer, zumal sie in die kleine Katie, Victorias Tochter, sehr vernarrt sind.

Im nächsten Kapitel lernen wir eine neue Familie kennen: Luther und Betty leben zusammen mit den Kindern Joy Rae und Richie in einem relativ verwahrlosten Wohnmobil am Existenzminimum. Die Eltern scheinen retardiert, haben eine falsche Wahrnehmung von sich sowie ihrer Umwelt und können ihren Kindern weder ausgewogene Mahlzeiten noch Geborgenheit oder Schutz bieten – und das, obwohl sie sie lieben. Die Familie wird vom Sozialamt betreut, insbesondere Rose Tyler versucht sie zu unterstützen. Da dem Ehepaar bereits eine Tochter abgenommen und in eine Pflegefamilie vermittelt wurde, hat es Angst, dass dieses noch einmal passieren könnte.

Im dritten Kapitel ist DJ, ein 11-jähriger Junge, die Hauptperson. Er lebt zusammen mit seinem Großvater Walter Kephart in einem kleinen Haus. Der Junge kümmert sich um den Alten, versorgt den Haushalt, besorgt die Wäsche, während Walter ein sehr schweigsamer, wenig liebevoller Mensch ist. Eines Tages bittet die Nachbarin Mary Wells den Jungen, in ihrem Garten einige Arbeiten gegen Bezahlung zu erledigen. Schnell wird klar, dass sie dies tut, um DJ zu unterstützen. Sie selbst hat auch zwei Töchter, Emma und Dena. Insbesondere Dena und DJ freunden sich miteinander an. Sie richten sich einen alten Schuppen ein, der zu ihrem Refugium wird. Denn leider wird auch Denas Familie nicht vom Schicksal verschont bleiben.
Es sind im Wesentlichen diese drei Menschengruppen, um die sich das Buch immer im Wechsel dreht. Die Berührungspunkte untereinander sind meist nur kurzer, oberflächlicher Natur, so wie es in einer kleinen Stadt eben immer wieder zu Begegnungen kommen kann. Es wechseln sich trübe, melancholische, zuweilen auch brutale Szenen mit freudigeren und hoffnungsfrohen Momenten ab – wie das Leben eben so spielen kann.

Kent Haruf hat kein Wohlfühlbuch geschrieben, immer schwingt ein Hauch Melancholie mit. Es gibt große Schicksalsschläge, mit denen die Protagonisten fertig werden müssen: Ein Mensch wird tragisch aus dem Leben gerissen und hinterlässt eine riesige Lücke. Ein gewalttätiger Onkel taucht auf, der auf sadistische Weise Kinder misshandelt, die ohnehin schon nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Ein Vater verlässt seine Familie und bringt die verlassene Ehefrau völlig aus dem Gleichgewicht. Auf der anderen Seite gibt es große Gefühle, Freundschaft und neue Perspektiven. Es geht um Dinge, wie sie tausendfach passieren. Harufs Geschichten orientieren sich an der Realität. Entsprechend bietet er auch keine omnipotenten Lösungen an, die in einem Happy End münden. Statt dessen zeigt er, wie die Figuren sich der Situation stellen, wie ihnen Hilfe von anderen Menschen angeboten wird, wie sie, der eine schneller, der andere langsamer, wieder auf die Füße kommen oder sich zumindest ein Hoffnungsschimmer am Horizont auftut.

Man hat schnell das Gefühl, das Städtchen Holt und seine Bewohner zu kennen. Es gibt wie überall Gute und Böse, Aufmerksame und Oberflächliche. Haruf erzählt seine Geschichten völlig unaufgeregt in einfacher, jedoch wunderschön gesetzter Sprache, in der es übrigens nur wörtliche Rede ohne Satzzeichen gibt. Man kann sich unheimlich gut in die Figuren einfinden, auch die Gegend, das Ländliche wird sehr anschaulich beschrieben. Der Autor behält dabei immer einen sicheren Abstand, er erzählt sachlich, wird nie emotional oder gar kitschig. Phantastisch, wie gut es ihm gelingt, den Leser dennoch nahe ins Geschehen zu führen.

Man kann den Roman unabhängig von seinem Vorgänger lesen. Trotzdem hat es mir beim Lesen Freude gemacht, manch guten alten Bekannten wieder zu treffen. Ich bin überzeugt, dass bei Erstlesern anschließend der Wunsch aufkeimen wird, auch die anderen Bücher Harufs kennenzulernen.

Ein wunderschöner, flüssig zu lesender amerikanischer Roman über ganz normale und gleichzeitig besondere Menschen, der viel Raum für eigene Gedanken und Wertungen lässt. Ein Buch, wie ich es liebe!


 
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