Rezension Rezension (5/5*) zu 88 Namen: Roman von Matt Ruff.

Emswashed

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9. Mai 2020
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Das Spiel mit den Identitäten

Hand aufs Herz. Wer würde nicht gern ab und zu jemand anderes sein, all seine Einschränkungen und Unzulänglichkeiten ablegen, in eine neue Rolle schlüpfen und all das erleben, was im wahren Leben zu gefährlich, kostspielig, oder einfach nur peinlich ist?
Was früher der Mummenschanz, Karneval und Mottoparty für eine Nacht war, geht heute eigentlich rund um die Uhr im Internet. Anonym darf man sich dort neu erfinden und einsteigen, in die bunte und aufregende Welt der Online-Spiele.
John Chu kennt diese Wünsche und bietet Kunden seine Dienste als sogenannter Sherpa an. Er verrät unerfahrenen Spielern Kniffe und Tricks, wie sie möglichst unbeschadet und schnell auf höhere Level kommen und steht ihnen mit seiner angeheuerten Truppe von Mitspielern zur Seite. Er verkauft seinen Klienten Erfolgserlebnisse. Verbotenerweise, denn die Spielehersteller sehen das nicht gern, wenn ihre jahrelange Entwicklungsarbeit von ein paar Spezies auf eine simple Anleitung heruntergebrochen wird.
Deshalb ist es mit Johns neuem Kunden auch nicht wirklich einfach. Er scheint reich zu sein, und seine Interessen richten sich auf das virtuelle Nordkorea, zumindets scheint er sich dort auszukennen. Agressiv und sich nicht an Absprachen haltend, hat John Schwierigkeiten mit ihm im Spiel nicht als Sherpa aufzufliegen und mit seinem Charakter gesperrt zu werden. Will ihm seine Ex-Freundin, die ihm Rache geschworen hat, schaden? Oder handelt es sich bei diesem Auftraggeber vielleicht um den 1. Parteivorsitzenden der nordkoreanischen Volksrepublik? Die Einmischung einer anonymen Agentin spricht dafür.
Wie gut für John, dass er sich ganz und gar auf seine Freunde und "Mitarbeiter" im Netz und seine Mutter verlassen kann.

Matt Ruff hat sich in diesem rasanten und kurzweiligen Roman ganz dem Spiel mit Identitäten gewidmet. Eingebettet im Online-Game "Call of Wizardry", beschreibt er hier eine Welt voller Chancen, Träume zu verwirklichen, Geld zu verdienen, aber auch die Möglichkeit seinen Neigungen und Trieben nachzugehen. Auch die Gefahren werden aufgezeigt, wenn sich Agenten aus verfeindeten Staaten gegeseitig ausspionieren wollen, wenn es ums große Geld geht, oder vielleicht sogar um Gedankenbeeinflussung (Brot und Spiele fürs Volk).

Das Ende hat mich zunächst enttäuscht, weil es meinen Erwartungen so gänzlich zuwiderlief. Doch je länger ich darüber nachdachte, umso breiter wurde das Grinsen auf meinem Gesicht, als mir klar wurde, Ruff hat mit mir gespielt! Er hat mit seinen Lesern gespielt und damit vielleicht die bessere Version einer Lektion erteilt, als er jemals mit einem erhobenen Finger, oder mahnenden Worten je erreicht hätte. Genial! Ruff hat sich mal wieder in der Vermittlung eines Themas als Könner bewiesen, als echter Sherpa eben, auf einem Gebiet, bei dem nichts so ist, wie es scheint, wo Glaubenssätze erschüttert und Wahrheiten ins Gegenteil verkehrt werden. Ruff hat auf Papier das geschafft, was im Netz schon gang und gäbe ist.

 

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